Heiraten, noch heute: Frankfurt gedenkt Marcel Reich-Ranickis

Im letzten längeren Gespräch, das Marcel Reich-Ranicki mit seinem Biographen Uwe Wittstock führte, fragte dieser, ein früherer Redakteur in Reich-Ranickis Literaturblatt, den mittlerweile über Neunzigjährigen, ob er Angst vor dem Tod habe. Die Frage sei falsch gestellt, belehrte der Literaturkritiker sein Gegenüber. Es gehe nicht um Angst vor dem Tod, sondern um die vor der Nicht-Existenz. Und die habe er. Im Übrigen sei er überzeugt davon, dass Religion dafür keinen Trost bereithalte. Ein Jenseits gebe es nicht, der Tod sei der Schlusspunkt.

Der emeritierte Literaturwissenschaftler Thomas Anz, seit 1980 Mitarbeiter des Literaturblatts, zitierte diese Äußerungen am Donnerstagabend in seinem gut besuchten Vortrag zur Finissage der Marcel-Reich-Ranicki-Ausstellung im Deutschen Exil-Archiv 1933–1945 in Frankfurt nicht ohne Grund. Er erinnerte an die letzten Lebensjahre des Kritikers, an den Tod seiner Frau Teofila im April 2011, die ihr Witwer um zweieinhalb Jahre überleben sollte, und an die große Einsamkeit, die diese letzte Periode prägte. In diese Zeit fiel auch der letzte große öffentliche Auftritt Reich-Ranickis, die Rede zum Holocaust-Gedenktag vor dem Deutschen Bundestag in Berlin am 27. Januar 2012. Die Bild- und Tondokumente, die Anz in seinen Vortrag einbaute, wirken wie Relikte einer längst vergangenen Zeit, in der die Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Bundestagspräsident Norbert Lammert und der Bundespräsident gerade noch Christian Wulff hieß. Der einundneunzigjährige Reich-Ranicki lauscht ergriffen einem Pianisten, der Chopin spielt, dann wird er ans Rednerpult geführt, er liest seinen Text bisweilen unsicher und vertut sich mit den Jahreszahlen – er nennt 1948 als das Jahr, in dem er von Berlin zurück nach Polen geschickt wurde, während es tatsächlich 1938 war.

Ein Zeitzeuge

Aber es geht zugleich eine unabweisbare Kraft von seinen Worten und seinem Vortrag aus. Er stehe hier nicht als Historiker, sondern als Zeitzeuge, so beginnt er seine Rede. Er erzählt, was er gesehen und erlebt hat, und bettet es ein in die Geschichte des Warschauer Ghettos. Er berichtet von dem Moment am 22. Juli 1942, da SS-Offiziere dem Obmann des „Judenrats“, Adam Czerniaków, den Befehl der Besatzer verkünden, nach dem das Ghetto von den meisten seiner Bewohner geräumt werden soll, während einige wenige, die bestimmte Funktionen hatten, vorerst bleiben durften; davon, wie er selbst diesen Befehl protokollierte und einer Schreibkraft diktierte, die dann leise zu ihm, der aufgrund seiner Arbeit bleiben durfte, gesagt hätte: „Du solltest Tosia noch heute heiraten.“

Wer damals Reich-Ranickis Autobiographie „Mein Leben“ gelesen hatte, der kannte diese Rede, denn sie bestand aus Auszügen des Buches. Wie bitter notwendig dieses Werk war und ist, wie sehr man wünschen muss, dass es weiterhin ein großes Publikum erreicht, macht eine Hörstation der fabelhaften Ausstellung deutlich, in deren Rahmen Anz seinen Vortrag hielt. Sie hält eine Diskussion mit Zuschauern der Fernsehserie „Holocaust“ von 1978 fest, die im Januar 1979 auch in Deutschland gezeigt wurde. Reich-Ranicki ist als Zeitzeuge geladen, und er wendet sich mit klaren Worten gegen die Behauptung, man hätte von der Drangsalierung und von der Deportation der Juden nicht unbedingt etwas mitbekommen müssen. Er zählt detailliert auf, was geschah, was jeder sehen konnte und musste. Dass es offenbar nötig war, 35 Jahre nach Kriegsende diese Fakten auszubreiten, wirft kein gutes Licht auf jene Zeit. Und es ist erschütternd, dass der Holocaust-Gedenktag erst 1996 eingeführt worden ist.

Die Familie Reich-Ranicki auf dem Sofa in der Frankfurter Wohnung unter einer Sammlung von Schriftsteller-Porträts, v. l. n. r.: Teofila, Carla, Marcel, Andrew, Ida, ohne Datum. : Bild: Privatbesitz.

Reich-Ranickis Rede vor dem Bundestag, die Anz einen „Akt letzter Kraft“ nennt, spricht vom Tod, von der alltäglichen, äußersten Bedrohung, aber sie spricht auch von Fürsorge und Liebe. Es sind diese beiden Pole, auf die Anz in seiner Analyse hinweist, und ein paar Schritte weiter zeigt auch die Ausstellung, wie sehr Reich-Ranickis Leben davon geprägt war. Sie beleuchtet seine Zeit in Polen nach 1945, seinen wachsenden Einfluss als Kritiker, sein weitgespanntes Netzwerk, sein Talent als Freund und Gegner und seine enorme Popularität als Literaturvermittler im Fernsehen.

Dem Tod als Schlusspunkt jedenfalls, den der Kritiker am Ende er­wartet, setzt der Literaturwissenschaftler immerhin das Gedenken entgegen, für das die Ausstellung ein Beispiel sei. Und dass noch der alt­ gewordene Zeitzeuge sein Publikum erreichte, zeigt eine späte Ehrung. Ein knappes Jahr nachdem Reich-Ranicki vor dem Bundestag gesprochen hatte, teilte das Rhetorische Seminar der Universität Tübingen Ende Dezember 2012 mit, dass es den Auftritt zur „Rede des Jahres“ gekürt hatte.

Source: faz.net