Heinrich August Winkler: Der große Erklärer dieser Teutonia erinnert sich – doch nicht an die Gesamtheit

Der in Königsberg 1938 geborene Historiker Heinrich August Winkler ist nicht nur einer der bedeutendsten Historiker, die die Bundesrepublik hervorbrachte, sondern auch einer der maßgeblichen Intellektuellen, die die Entwicklung Deutschlands seit Jahrzehnten kritisch begleiteten und mit unzähligen Reden, Essays und öffentlichen Interventionen Debatten bereicherte.

Winkler gehört zu den wenigen bundesdeutschen Historikern, die auch international, vor allem in Italien, Frankreich, England, den USA oder Polen, ein hohes Prestige erworben haben. Ich habe das Glück gehabt, Winkler 1991 kennengelernt und ihn einige Jahre bis 1995 aus nächster Nähe erlebt zu haben.

Unstillbarer Erkenntnisdrang

Als Historiker war er nicht nur für mich beispielgebend. Sein schier unstillbarer Arbeits-, Erkenntnis-, Schreib- und Interventionsdrang ist respekterheischend und kennt nur wenige ebenbürtige Historiker auf Augenhöhe wie etwa Jürgen Kocka, Michael Stürmer, Jürgen Osterhammel oder die bereits verstorbenen wie Hans Mommsen, Hans Ulrich Wehler, Wolfgang J. Mommsen, Gerhard A. Ritter, Helga Grebing, Lothar Gall, Reinhart Koselleck und Thomas Nipperdey. Selbst unter diesen jedoch ragt Winkler nochmals mit seinem wissenschaftlichen Werk und seinen kontinuierlichen gesellschaftspolitischen Interventionen heraus.

Von seinen vielen wissenschaftlichen Werken ist für mich die dreibändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1918 bis 1933 das herausragende Werk in Winklers Œuvre. Über Fachgrenzen hinweg ist Winkler ab 1993 berühmt geworden – angefangen mit seiner auf eben diesem Dreibänder basierenden Geschichte Weimar, die Bundeskanzler Helmut Kohl allen Geschichtsinteressierten zum Lesen empfahl.

Der Zweibänder „Der lange Weg nach Westen“ ist in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen, der Fünfbänder „Geschichte des Westens“ in gewisser Hinsicht die Summe und zugleich die enorme Perspektivenerweiterung Winklers wissenschaftlichen Lebens.

Winkler kam 1991 an Uni nach Berlin

Später könnte es sein, dass man schreiben wird, damit ging das 20. Jahrhundert in der deutschen Geschichtswissenschaft zu Ende – die Historiographie, wie sie Winkler in der Tradition älterer Vorbilder aufgriff, fortführte, modernisierte und innovierte, beschreitet in vielerlei Hinsicht mittlerweile andere Wege, ob sie „besser“ sein werden, wird sich noch zu erweisen haben.

Winkler kam 1991 von Freiburg an die Humboldt-Universität zu Berlin. An der Berufung war ich als Kommissionsmitglied, die die Geschichtswissenschaft an der HU neu aufbaute, beteiligt. Schon das wäre eine Story wert, jedenfalls eine, die mich damals einigermaßen verwundert auf die Berufungspraxis blicken ließ.

Hier wurde er zu dem Historiker und Intellektuellen der Berliner Republik – nicht zufällig, sondern zielstrebig, voller Elan und keine Chance verpassend, öffentlich zu intervenieren und hinter den Kulissen darum bemüht, auf politische Debatten Einfluss zu nehmen.

Ich habe Winkler immer bewundert. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre aus mir kein forschender und schreibender Historiker geworden. Ich will auf die Gründe hier nicht näher eingehen, aber betonen, wie sehr es mich ehrte und freute, als mir Winkler nach dem Erscheinen meiner zwei Bände der Ulbricht-Biografie außergewöhnlich euphorische und freundliche Lobesbriefe schickte. Abgesehen von einer mich äußerst berührenden Eloge von Karl Schlögel, die dieser mir nach der Lektüre meiner Ulbricht-Biografie schickte, hat mich nichts so erfreut, wie diese positive Resonanz durch Winkler.

Wir erfahren wenig Privates über Winkler

Als ich erfuhr, dass Winkler eine Autobiografie schreibe, war ich sofort gespannt darauf. Das Buch besteht aus drei Kapiteln. Das erste basiert auf einem Sammelband mit Erinnerungen von deutschen Historikern einer bestimmten Alterskohorte, ein Buch, das ich hier auch bereits sehr kritisch rezensierte. Winkler hat diesen Essay noch etwas erweitert. Er berichtet über seine Herkunft, wie er Historiker wurde und was ihn in seinem Forscherleben antrieb. Wie auch in den beiden folgenden Kapiteln – politische Interventionen sowie Begegnungen – erfahren wir ziemlich wenig über ihn selbst.

Es geht um Politik, um seine öffentlichen Interventionen und um seine wichtigsten Bücher. Das ist alles durchaus interessant und ergibt eine bundesdeutsche Geschichte der Jahre 1960 bis 2020 aus der Sicht eines maßgeblichen Intellektuellen.

Bezeichnend jedoch dürfte sein, dass es fast ausschließlich um die öffentlichen Debatten geht, die der public intellectual führte und dieser nichts aus seinem Privatleben, aber auch nichts aus seinen wissenschaftlichen und innerinstitutionellen Kämpfen (abgesehen von der HU Berlin 1991/93) preisgibt. Winkler hat als Historiker anders als Ritter oder Kocka nie eine wissenschaftliche Schule aufgebaut, ich möchte behaupten, wie Wehler hatte er daran auch kein Interesse.

Es gab viele Auseinandersetzungen in seiner Karriere

Gleichwohl habe ich in den wenigen Jahren der Nähe doch einiges an Auseinandersetzungen und Streitereien mitbekommen, die es auch vorher und später gab – nichts davon spiegelt sich in dem Buch wider. Das ist auch insofern bemerkenswert, da Winkler, der mit vielen Staatspreisen geehrt worden ist, nie nennenswerte innerwissenschaftliche Ehrungen erhielt, nicht einmal eine angemessene Festschrift mit Schriftenverzeichnis – 1999 kam ein Sammelband zu seinen Ehren, zusammengestellt von seinen damaligen Assistenten, heraus, ein Buch, das von größtmöglichem Streit und unmöglichen Konflikten im Herstellungsprozess begleitet war.

Von solchen Auseinandersetzungen gab es in Winklers akademischer Karriere einige – nichts davon ist in seinem Buch zu lesen. Stattdessen findet man auf 200 Seiten sehr akribisch zusammengetragen, und wie bei Winkler üblich, im besten Sinne lesbar, alle Debatten, an denen der berühmte Historiker aktiv beteiligt war. Etwas irritierend ist zuweilen der ungewohnte buchhalterische Stil, wenn Winkler nicht ohne Stolz immer und immer wieder die großen Zeitungen der Republik auflistet, in denen seine Essays abgedruckt wurden – kontinuierlich über Jahrzehnte hinweg.

Typisch für die Weltsicht von Historikern dürfte das dritte Kapitel „Begegnungen und Erlebnisse“ sein. Im Winkler-Kosmos gibt es nur Kanzler, Minister, Partei- und Fraktionsvorsitzende oder Ordinarien. Davon wimmelt es nur so in diesem Buch, und Winkler kann von vielen Begegnungen und Gesprächen berichten. Immer wieder zitiert er aus Briefen und seinem Tagebuch, sehr intensiv geht er etwa auf Diskussionen mit Jürgen Habermas ein.

In dem Buch kommen auch Abendessen oder Ähnliches vor, aber nie eines nur zum Vergnügen, sondern offenbar geht es dort, wo Winkler auftaucht, allein und nur oder überhaupt stets um die ganz großen Fragen der Welt. Und ja, diesen Eindruck konnte man bereits aus der Nahsicht Anfang der 1990er Jahre gewinnen – kein Essen, keine Verabredung, kein Gespräch ohne Hintersinn und Absicht. Keine Ahnung, ob man so tatsächlich, wie in dem Buch oft beschworen, Freunde gewinnen kann. Wahrscheinlich gibt es in dem Winkler-Kosmos auch eine andere Freund-Definition.

Ich war Augenzeuge jener Debatten

Jedenfalls entwirft Winkler ein Gelehrtenleben alter Schule – und das war auch schon in der „alten Schule“ nicht eben realitätsnah. Schaut man auf Winklers große Bücher seit den 1990er Jahren, muss man allerdings einräumen, dass er Geschichte genauso schreibt wie sein eigenes Leben: als Kämpfe großer Männer, und dabei bekommen Historiker vom Historiker meist einen prominenten Platz zugewiesen.

Konsequent ist das dann also schon – allerdings ist der Buchtitel von Winklers Erinnerungen einer, der unter Winklers üblicher Eloquenz, wissenschaftlicher Stringenz und intellektueller Brillanz liegt. Jedenfalls bietet das Buch viel Stoff, um zu erfahren, an welchen Debatten Winkler beteiligt war. Leider ist das aber auch nur bedingt seriös, weil es bei diesen Debatten außer Winkler und den Großen seines Kosmos‘ praktisch nie andere Debattenteilnehmer gibt.

Da ich als Augenzeuge und politisch Beteiligter Anfang der 1990er Jahre auch jene Debatten erlebte, die Winkler schildert, kann ich versichern, da gab es auch andere Stimmen, selbst an der HU Berlin, wenn ich an einige Philosophen oder Theologen denke. Vieles, was Winkler gerade in den ersten Jahren an der HU Berlin und in Berlin mit beförderte, war zudem gar nicht ohne jene möglich, die Winkler mit den Zusammenhängen vertraut machten und schon vor ihm bestimmte Debatten, die er geradezu für sich reklamiert, angestoßen hatten.

„Erzähl von deinen Zweifeln!“

Dabei hat er das nicht nötig, diese Form der Alleinbespiegelung. Denn seine Strahlkraft ist unbestritten und wird auch erst im Kontext zu anderen deutlich. Allerdings scheint er das etwas anders zu sehen. Denn das Buch ist in einem gewissen Maße auch der völlig unnötige Versuch, sich selbst jenen Lorbeerkranz zu flechten, die ihm die Zunft verweigerte.

Das ermüdet auch irgendwann etwas beim Lesen – Winkler hätte in der Familie oder im Verlag Berater benötigt, die ihm hätten nahelegen müssen: „Heinrich, Du bist und bleibst bedeutend – lass das doch aber andere über dich herausarbeiten! Erzähl lieber von den Dingen, die außer dir niemand weiß, erzähle von deinen inneren Zweifeln und Kämpfen, von deinen Verletzungen, von deiner Familie, von Verlusten, Sehnsüchten, Reisen, Niederlagen, berichte von den Kämpfen fern gesellschaftspolitischer Intervention! Heinrich, zeige dich als Mensch!“

Davon erfahren wir nichts – aber sehr viel davon, wer ihm alles zuhörte, mit ihm sprach, seinen Rat suchte. Heinrich August Winkler wird eines Tages mit einer großen Biografie gewürdigt werden. Daran besteht für mich kein Zweifel. Seinem künftigen Biografen hätte ich eine Autobiografie mit mehr empirischem Material gewünscht, das nicht ohnehin mit den Schriften des berühmten und politisch einflussreichen Historikers vorliegt. Das Buch ist trotzdem zu empfehlen, auch wenn es in der Reihe der großen, der wirklich vielen großen Bücher von Heinrich August Winkler nicht in der Spitzengruppe rangiert.

Warum es so gekommen ist. Erinnerungen eines Historikers Heinrich August Winkler C.H. Beck Verlag 2025, 288 S., 30 €

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