Fragt man Heiner Flassbeck, ob die VW-Krise ein böses Omen ist, zögert er nicht. Was müsste die Ampel tun, um nicht nur den Autokonzern zu retten, sondern der deutschen Industrie insgesamt aus dem Tief zu helfen?
der Freitag: Herr Flassbeck, sind Sie eigentlich ein Optimist?
Heiner Flassbeck: Grundsätzlich schon. Aber im Moment bin ich eher auf der pessimistischen Seite. Ich mache jetzt seit 50 Jahren Wirtschaftsbeobachtung, und noch nie habe ich eine Regierung erlebt, die so ignorant hinsichtlich der aktuellen Entwicklung ist wie die Ampel. Mittlerweile sind wir seit zweieinhalb Jahren in einer Rezession.
Die Regierung geht für 2024 von 0,3 Prozent Wachstum aus.
Das hat nicht viel zu sagen. Gucken Sie sich die harten, die relevanten Industriezahlen an. Die sind schlicht eine Katastrophe. Nur ein Beispiel: Der Auftragseingang im gesamten verarbeitenden Gewerbe geht seit zweieinhalb Jahren zurück. Das habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Beim Maschinenbau liegen die Auftragseingänge heute fast 20 Prozent unter dem Niveau von Anfang 2022. Auch die für die Zukunft absolut entscheidenden Ausrüstungsinvestitionen werden in diesem Jahr vermutlich um sieben Prozent einbrechen. Wissen Sie, wie man das früher genannt hätte? Eine schwere Rezession.
Ist die Krise bei VW eine Art Menetekel für den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands?
Natürlich. Ich bin jetzt kein Insider in VW-Politik. Keine Ahnung, was das Management da alles falsch gemacht hat. Aber die Gesamtgemengelage in der Automobilindustrie ist sehr schwierig. Niemand weiß: Elektro oder kein Elektro? Bis wann muss ich umstellen?
VW hat dieses Jahr 1,4 Prozent weniger E-Autos verkauft als 2023. Und es waren vorher schon nicht besonders viele.
Ja, die Kunden nehmen das nicht an. Umso wichtiger wäre ein gutes Makromanagement: Wenn Unternehmen und Haushalte sparen, wie es aktuell der Fall ist, dann muss der Staat sich verschulden. Bisher haben wir es durch riesige Leistungsbilanzüberschüsse geschafft, dass im Ausland die Schulden gemacht wurden, mit denen wir die Nachfragelücke ausgeglichen haben. Das kann auf Dauer nicht funktionieren. Wenn Trump an die Regierung kommt, ist es damit sowieso zu Ende. Wir müssen jetzt fundamental umstellen. Der Staat muss investieren. In Brücken. In Gesundheitsvorsorge. In Infrastruktur. In Bildung. Dann haben die Leute auch wieder genug Geld in der Tasche, um sich vielleicht mal ein E-Auto zu kaufen.
Im Juni konnte man lesen, dass VW in den nächsten Jahren 60 Milliarden Euro in neue Verbrennermotoren stecken will. Klimaschützer freuen sich vielleicht über die Schieflage des Konzerns. Sie auch heimlich?
Nein, zu glauben, dass man das Klima rettet, wenn VW zugrunde oder die deutsche Wirtschaft in die Knie geht, ist absurd. Es mag ja in Berlin Leute geben, die grün angezogen sind und es gar nicht so schlimm finden, wenn die Wirtschaft nicht läuft, weil das angeblich „gut für das Klima“ sei. Aber das ist eines der größten Missverständnisse. Wir brauchen eine dynamische Wirtschaft, die wächst und in Richtung Klimaneutralität umgelenkt wird – und zwar global. Das geschieht aber nicht. Die Öl- und Gasproduzenten dieser Welt fördern einfach fröhlich weiter. Da müssen wir ran. Ich habe gestern für 1,46 Euro pro Liter Diesel getankt. Das ist, real gesehen, deutlich billiger als in den 1960er Jahren. Das muss man sich mal vorstellen! Was würde eine VW-Pleite an dieser Situation verändern?
Der Autohersteller BYD hat 2022 vom chinesischen Staat umgerechnet 2,1 Milliarden Euro an Subventionen bekommen. Sollte Deutschland, soweit europarechtlich möglich, Volkswagen auch stärker finanziell pushen?
Nein, das wäre ja wieder Mikro- statt Makromanagement. Außerdem müsste der Staat dann ja auch die Maschinenbauindustrie subventionieren, die Elektrotechnik und was weiß ich nicht alles.
Intel zumindest sollte großzügig staatliche Gelder erhalten, um sich in Magdeburg anzusiedeln: 9,9 Milliarden. Trotzdem hat das Unternehmen vor kurzem angekündigt, den Bau der Chipfabrik um zwei Jahre zu verschieben.
Ja, es scheint der Regierung schwerzufallen, Unternehmen nach Deutschland zu locken. Ihr Ansatz, einzelne Firmen herauszugreifen und denen unter die Arme zu greifen, ist auch falsch. Was sind die Kriterien dafür? Wieso fährt Olaf Scholz nach Papenburg, um zu verkünden, dass die Meyer Werft vom Staat gerettet wird, während andere still und leise den Bach runtergehen? Wir müssen endlich weg von dieser betriebswirtschaftlichen und hin zu einer makroökonomischen Perspektive.
In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, China sei es gelungen, optimale Investitionsbedingungen zu schaffen. Wie sehen die aus?
Das Ziel eines Landes muss es sein, Geldwertstabilität zu erhalten, ohne dass die Zinsen hoch sind und die Investitionen einbrechen. China hat das in den letzten 30, 40 Jahren super geschafft. Als einziges Land der Welt hat es verstanden, dass man Inflation nicht über höhere Zinsen bekämpft, die Wachstum drosseln, sondern indem auch der Staat dafür sorgt, dass die Löhne entsprechend der Produktivitätszunahme steigen, aber nicht um mehr. Das ist das Geheimnis für erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Im Westen haben wir seit Reagan und Thatcher Inflationen mit höheren Zinsen bekämpft. Und wo geht es heute bergauf? Im Westen? Oder in China?
In den USA läuft es nicht so schlecht: Joe Biden rühmt sich, dass in drei Jahren seiner Amtszeit 16 Millionen Anträge auf Unternehmensgründung eingingen.
Ja, die USA haben immerhin verstanden, dass der Staat die oben erwähnte Nachfragelücke füllen muss. Ohne Geld auszugeben, geht es nicht. Biden hat 738 Milliarden Dollar für Investitionen in die Hand genommen. Das Ergebnis ist positiv. Schauen Sie sich die amerikanische und die europäische Staatsverschuldung an: Die amerikanische geht nach oben, die europäische bleibt stabil. Dafür haben wir unsere Wirtschaft kaputtgespart, und die USA prosperieren.
Bremst nicht auch die Bürokratie unsere Wirtschaft? Der Bauantrag für die Intel-Fabrik hatte 2.000 Seiten und wurde monatelang von Behörden geprüft.
Bürokratie behindert sicherlich. Aber das ist nicht das Hauptproblem. Europa kann nicht ohne Bürokratie funktionieren: Ohne Wettbewerbsrecht gibt es beispielsweise keinen EU-Binnenmarkt.
Gucken Sie mal in die Glaskugel: Wie geht es wohl bei VW weiter?
Ich bin kein Prophet. Meine Vermutung ist: Die Probleme werden größer werden. Wir müssen die große Unsicherheit beseitigen und uns entscheiden: Machen wir die Elektromobilitätspolitik auf Teufel komm raus? Wenn wir allerdings alles auf die E-Auto-Karte setzen, während der Rest der Welt die Freiheit hat, das eine oder das andere zu machen, dann wird die deutsche Automobilindustrie früher oder später über den Jordan gehen.
Welches Auto fahren Sie privat?
Einen modernen Diesel. Auf den 650-Kilometer-Fahrten, die wir regelmäßig unternehmen, möchte ich nicht alle 200 Kilometer nervös werden, weil die Batterieladung absackt.
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Heiner Flassbeck (geboren 1950) war im Kabinett Schröder I Staatssekretär im Finanzministerium, wurde aber nach Oskar Lafontaines Rücktritt von dessen Nachfolger entlassen. Zuletzt erschien von ihm Grundlagen einer relevanten Ökonomik (Westend 2024, 464 S., 68 €)