Wenn der Kanzler sich aus dem Urlaub in eine Debatte einschaltet, dann hat sie aus seiner Sicht einen ungünstigen Verlauf genommen. In diesem Fall geht es um ein Rechtsgutachten, in dem die Verfassungsmäßigkeit der Haushaltspläne der Ampel bewertet wird. In Auftrag gegeben hat das Gutachten Finanzminister Christian Lindner, vergangene Woche machte das Ministerium seine Deutung der Ergebnisse öffentlich. Im Rest der Ampelkoalition wurde sie so verstanden, als leite Lindner aus dem Dokument ab, dass der Haushaltskompromiss verfassungswidrig sei, auf den sich die Koalition im Juli geeignet hatte: Sie hatte beschlossen, dass die Bahn und die Autobahngesellschaft Darlehen des Bundes erhalten, die nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden sollen.
Diese Interpretation wies Scholz nun gegenüber der ZEIT zurück. Ergebnis des Gutachtens sei: „Das geht“, so Scholz. Es bleibe ein „Mysterium“, wie es so „grundfalsch“ aufgefasst werden konnte.
Scholz wiederum wurde so interpretiert, als wolle er seinem Finanzminister die Grenzen aufzeigen. „Scholz pestet gegen Lindner“, schrieb die Bild, und in der Union wird bereits spekuliert, ob die Koalition am Ende sei. Schließlich stammt die Idee für die Darlehensfinanzierung aus dem Kanzleramt, Lindner hatte ihr nur unter der Voraussetzung zugestimmt, dass ein Prüfverfahren eingeleitet wird.
Erst Lindner gegen Scholz, dann Scholz gegen Lindner? So einfach ist das alles möglicherweise nicht. Das Gutachten des Bielefelder Rechtsprofessors Johannes Hellermann hält die geplanten Darlehen an die Bahn und die Autobahngesellschaft mit Einschränkungen für verfassungskonform. Das wird auch vom Finanzministerium nicht bezweifelt. Dort heißt es, sie seien auf Basis des Gutachtens „verfassungsrechtlich zulässig“, wenn bestimmte Voraussetzungen geschaffen würden. Wenn Scholz nun sagt, es sei „grundfalsch“ gedeutet worden, dann muss der Adressat dieser Kritik nicht unbedingt der Finanzminister sein. Aber wer dann?
An dieser Stelle wird es ein bisschen kompliziert, denn es gibt noch ein weiteres Gutachten. Es wurde vom Wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums erstellt und fällt deutlich skeptischer aus. Dort werden „erhebliche Zweifel“ an den Maßnahmen der Regierung angemeldet. Allerdings sitzen in diesem Beirat vor allem Ökonomen und keine Verfassungsrechtler, weshalb man ihre juristischen Argumente im Kanzleramt nicht so ernst nimmt.
Lindners Einwände sind deshalb nicht so sehr rechtlicher, sondern ökonomischer beziehungsweise politischer Natur. Seine Leute glauben nicht, dass sich die nötigen Voraussetzungen für eine rechtlich saubere Lösung so schnell schaffen lassen, wie es der Zeitplan beim Haushalt erfordert. Schließlich müssten dazu wahrscheinlich Gesetze geändert werden, weil zum Beispiel die Autobahngesellschaft derzeit nicht über eigene Einnahmen verfügt, mit denen sie die Darlehen zurückzahlen kann (weshalb in der Koalition überlegt wird, ihr einen Teil des Aufkommens aus der Lkw-Maut zu überlassen). Im Finanzministerium hält man es auch für fraglich, dass sich die ganze Angelegenheit wirtschaftlich rechnet, etwa weil die Bahn schon sehr hohe Schulden hat.
Man kann das allerdings alles auch ganz anders sehen, die Ökonomie ist schließlich keine exakte Wissenschaft, und unter Ökonomen wird über die Sinnhaftigkeit der Regierungsmaßnahmen eine durchaus kontroverse Debatte geführt. Es macht jedenfalls einen Unterschied, ob ein politischer Vorschlag aus inhaltlichen Gründen abgelehnt oder als verfassungswidrig bezeichnet wird.
Die Gefahr des Verfassungsbruchs ist aus Sicht von Lindner bei einer dritten Maßnahme gegeben, auf die sich die Ampel geeinigt hatte: die Nutzung von übrig gebliebenen Geldern der Gaspreisbremse. Aber diese Einschätzung wird im Kanzleramt geteilt, allen Beteiligten ist klar, dass deshalb die Lücke im Haushalt nicht zur Gänze so geschlossen werden kann, wie man sich das zunächst vorgestellt hatte.
Damit aber steht die Frage im Raum, weshalb der Haushaltsstreit dann überhaupt erneut so eskalieren konnte. War alles ein Missverständnis, weil die Position des Wissenschaftlichen Beirats beim Finanzministerium (ein unabhängiges Gremium) mit der Position des Finanzministeriums verwechselt worden ist? Sind Lindners Äußerungen falsch interpretiert worden? Oder sucht er doch nach einer Gelegenheit, um die Koalition zu verlassen, möglicherweise nach den Wahlen im Osten, die für die Ampel desaströs ausgehen dürften?
Was Christian Lindner wirklich will, weiß nur Christian Lindner. Aber es spricht einiges gegen diese These. So ist vollkommen unklar, ob die FDP von vorgezogenen Neuwahlen überhaupt profitieren würde, in den Umfragen sieht es für die Partei im Moment nicht gut aus.
Wahrscheinlicher erscheint: Lindner scheut beim Haushalt das Risiko, schließlich hat das Bundesverfassungsgericht schon einmal seinen Etat kassiert. Er hat außerdem keinen Zweifel daran gelassen, dass er gerne stärker bei den Sozialausgaben kürzen würde. Wenn nun wieder Geld fehlt, dann könnte er das als Begründung dafür anführen (was womöglich erklärt, weshalb er die Debatte hat laufen lassen). Allerdings wurden in der SPD und bei den Grünen bereits Gegenvorschläge zur Schließung der Deckungslücke ins Spiel gebracht, die wiederum für die FDP problematisch sind: mehr Schulden zum Beispiel oder höhere Steuern. Das Kompromisspaket wieder aufzuschnüren, bringt eben auch Risiken mit sich, das weiß Lindner.
Es ist also durchaus vorstellbar, dass der Kanzler und sein Finanzminister am Ende nicht so weit auseinanderliegen, wie es zuletzt schien. Und dass in den kommenden Wochen zwar über die ein oder andere zusätzliche Sparmaßnahme verhandelt wird, der Haushaltskompromiss aber im Kern erhalten bleibt, einschließlich zusätzlicher Mittel für die Bahn und die Autobahn. Es kann aber auch ganz anders kommen, wir reden hier schließlich über die Ampel.
Wenn der Kanzler sich aus dem Urlaub in eine Debatte einschaltet, dann hat sie aus seiner Sicht einen ungünstigen Verlauf genommen. In diesem Fall geht es um ein Rechtsgutachten, in dem die Verfassungsmäßigkeit der Haushaltspläne der Ampel bewertet wird. In Auftrag gegeben hat das Gutachten Finanzminister Christian Lindner, vergangene Woche machte das Ministerium seine Deutung der Ergebnisse öffentlich. Im Rest der Ampelkoalition wurde sie so verstanden, als leite Lindner aus dem Dokument ab, dass der Haushaltskompromiss verfassungswidrig sei, auf den sich die Koalition im Juli geeignet hatte: Sie hatte beschlossen, dass die Bahn und die Autobahngesellschaft Darlehen des Bundes erhalten, die nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden sollen.