Ein jahrelanges Warten auf nichts. So beschreibt Thomas Melle die Depression, die seinen Protagonisten heimsucht. Beständig folgt diese Dunkelheit auf die Manie, in der er sein Leben systematisch zerstört und alles verscherbelt und verstößt, was ihm wichtig ist. Der namenlose Erzähler im Roman Haus zur Sonne ist bipolar, genau wie sein Schriftsteller, und inmitten der ausdauernden Debatten über den literarischen Wert von Autofiktion sprach Melle es in einem Interview kürzlich einfach aus: „Eigentlich bin das ich.“ Auf eine Art ist diese Figur also Thomas Melle selbst, und sie hat nur noch einen Wunsch: sterben.
Melle veröffentlichte 2016 mit Die Welt im Rücken einen hochliterarischen, autobiografischen Text über seine Erkrankung, der mit den Worten endete: „Die Hoffnung heißt: nie wieder manisch werden. Aber es mag mich noch einmal umhauen (…) Dann werde ich dennoch weiterleben. Dann werden diese Zeilen wie ein Gebet sein.“ Die Manie kam zurück, nach beinahe zehn Jahren, zu Melle selbst und zu unserem Erzähler. Und diesmal, schreibt Melle, zerstörte sie ihn vollkommen. Einen beeindruckenden Roman hat er sich dennoch abringen können: Haus zur Sonne steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, und das zu Recht.
Es beginnt mit einer trostlosen Schilderung der Lebensmüdigkeit, immer wieder bezeichnet sich der Erzähler als Asche, als längst tot. Er übe sich im Verschwinden, eine niedliche Formulierung für: Er malt sich das Sterben aus und nimmt es schließlich in die Hand. Im Jobcenter liegt ein Flyer aus, „Das Pilotprojekt zur Lebensverbesserung, Traumverwirklichung, Selbstabschaffung“ steht darauf, staatlich gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit. Der Erzähler hält es zunächst für eine Satire-Aktion, bewirbt sich aber doch auf einen Platz in diesem „Haus zur Sonne“.
Und dann fährt ein polierter Geländewagen unseren Protagonisten aus der autofiktionalen Erzählung hinein in eine obskure Sci-Fi-Dystopie: mit Sedativa wie der fiktiven Soma-Droge aus Huxleys Schöner neuer Welt, mit sich selbst füllenden Buffets wie im Schlaraffenland, mit induzierten Illusionen wie in den Matrix-Filmen. Im „Haus zur Sonne“ verbringen Suizidale ihre letzten Wochen, sie leben in Bungalows, machen Yoga, und vor allem werden ihnen durch einen Zugang im Nacken ihre Träume simuliert. So sollen sie alles erleben dürfen, was sie sich wünschen. Bloß, was wünscht sich einer, der nur sterben will?
In einem anonymen Wünsche-Katalog, den wohl die Klienten des Hauses selbst befüllt haben, steht etwa: „In einem Hieronymus-Bosch-Gemälde leben“, „Einmal neben Dariusz H. aus der 10a sitzen, noch immer“ oder „Eine Liebe spüren, die mich ruiniert“. Die Einträge aus dem Katalog durchziehen den ganzen Roman, sie sind sein heimliches Kernstück. Mitten in der unheimlichen Surrealität erzählen sie davon, wonach der Mensch sich sehnt – und wie schwer es ist, sich überhaupt zu sehnen. Mal wünschen wir uns wie launige Kinder banale Dinge („ein Schokoladenmeer“, „makellose Schönheit“), mal suchen wir verzweifelt nach Sinn („verstehen, wofür wir eigentlich leben“), und mal fällt uns einfach nichts ein.
Der Protagonist beginnt mit dem simplen Wunsch nach einem kleinen Rausch, und schon sitzt er am Strand, die Wellen rauschen, in ihm rauscht es, die Welt ist weit, das Wasser ist weit, er löst sich ganz auf im Glück. Die Simulationen funktionieren, die Sedativa wirken, die stimmungsaufhellenden Tabletten machen ihn zufrieden – und als Erzähler vollkommen langweilig. Das künstliche Glück wirkt schnell nicht mehr wie eine willkommene Erlösung der Lebensmüden, sondern zieht sich wie eine schwere, klebrige Schleimspur aus immer gleichen Emotionen durch den Text („Dabei fühle ich mich so leicht wie nie“, „Ist es wirklich ein Feuerwerk, das da explodiert, oder sind wir das, unsere Seelen?“). Obwohl Melle überzeugt ist, durch die letzte Manie an Schreibfähigkeit verloren zu haben, geht diese Repetition durchaus als Stilmittel durch, das die Leserin übersättigt, bis sie sich den Zugang aus dem eigenen Nacken reißen will. So schreibt womöglich nur jemand, der des Lebens tatsächlich müde ist: jedes Glück als öder, stumpfer Ort.
Sobald die Illusionen enden, erfasst den Erzähler wieder die Depression, und das ist beinahe erfrischend zwischen diesem Schleim, zwischen den simulierten Hochzeiten und Kreuzfahrten und Lottogewinnen, die man ihm im „Haus zur Sonne“ technisch vorgaukelt. Denn eigene Wünsche hat er kaum, er ist eben wunschlos unglücklich. Dieser Roman verstört damit, einen Gedanken auszusprechen, der in unserem Alltag keinen Platz haben darf: dass das Leben wirklich nicht hätte sein müssen. Aber Haus zur Sonne lässt uns nicht hoffnungslos zurück. Selbst der Erzähler entwickelt irgendwann noch einen anderen Wunsch als den Tod – einen echten Wunsch zu verspüren.
Einige Hinweise darauf, was es mit dieser Selbstmordfabrik auf sich hat, versteckte Melle bereits in einem Theaterstück, das 2006 in Erlangen uraufgeführt wurde, sowie zehn Jahre darauf in Die Welt im Rücken. Die zahlreichen Ebenen, auf denen man sich Melle und seinen Texten nähern kann – Romane, Theaterstücke, Interviews, Gastbeiträge –, verweisen beständig aufeinander. Wie um diese autofiktionale Verwirrung auf die Spitze zu treiben, sagt in Haus zur Sonne ein mephistohafter Arzt zum Erzähler: „Hier handelt es sich jedoch nicht um ästhetische Projekte oder dergleichen. (…) Sie denken noch immer in literarischen Kategorien. Das hier ist kein Text. Das ist Ihr Leben.“ Und auf tragische Weise scheint es eben, zwischen der Science-Fiction, wirklich Melles Leben zu sein. In einem Interview sagte er: „Ich wusste nicht, ob ich das Buch zu Ende kriege oder ob ich vorher nicht selbst abtrete. (…) Ich sage nicht, ich möchte in die Schweiz fahren. Aber ich recherchiere.“
Manchmal wird das Schreiben über die Todessehnsucht davon überschattet, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller ja tatsächlich Suizid begehen. Wie Sarah Kane, nachdem sie im Theaterstück 4.48 Psychose ihren Wahn festhielt, wie Sylvia Plath, nachdem sie Die Glasglocke schrieb, oder wie Édouard Levé, der Selbstmord verfasste. Ihre Texte werden aber nicht nur überschattet, sondern durch die Selbsttötung vermeintlich auch mit Bedeutung aufgeladen, weil sie den Leserinnen und Lesern das geben, was sie so lieben – ein Gefühl von Authentizität. Das gibt auch Melle einem zur Genüge, glücklicherweise ohne dass er dafür sterben müsste. Aber es ist nicht das bloße Wissen um eine vermeintliche Echtheit, sondern das literarische Projekt, das dieses Buch wirklich bemerkenswert macht: die Verschränkung nicht nur von Leben und Fiktion, sondern von Leben und Fantasy, von gelebtem Unglück und vollkommen überdrehtem, künstlichem Glück.
Der schottische Dramatiker David Greig schrieb einmal zu Recht über Sarah Kanes Werk: „Wenn man diese Stücke daraufhin liest, was sie uns über ihre Autorin sagen, begeht man einen meiner Meinung nach sinnlosen forensischen Akt. Ihre wahre Vollendung erfahren die Stücke, wenn man sie daraufhin liest, was sie über uns selbst sagen.“ Die eigentliche Frage, die sich mit Haus zur Sonne stellt, ist also nicht, wie lebensmüde der Autor ist – sondern welche Wünsche es sind, die uns selbst am Leben halten.
Thomas Melle: Haus zur Sonne. Roman; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025; 320 S., 24,– €, als E-Book 19,99 €