Handwerkspräsident geht mit Ampel rigide ins Gericht: Sorge um Standort Deutschland

Herr Dittrich, am Sonntag wird in Thüringen und Sachsen gewählt. Wie sehr fürchten Sie sich vor den Ergebnissen für die AfD?

Ich gehöre keiner Partei an und bin als Handwerkspräsident politisch neutral, daher werden Sie von mir keine Wertung zu einzelnen Parteien hören. Was offensichtlich ist: Viele Menschen wünschen sich eine andere Politik. Eine, die die Probleme anpackt. Populistische Parteien werden das aber nicht machen. Sie versprechen einfache Antworten auf komplexe Fragen. Die gibt es nicht. Diese Gemengelage wird für uns alle noch sehr herausfordernd.

In Thüringen liegt die rechtsextreme AfD in den Umfragen klar vorne, in Sachsen nur knapp hinter der CDU. Sie kommen selbst aus Dresden: Was ist da schiefgelaufen?

Ich war Anfang zwanzig, als die Wiedervereinigung kam. Die Veränderungskraft, die da gewirkt hat, war gigantisch. Was das mit der Psyche einer Gesellschaft macht, können sich viele, die es nicht erlebt haben, auch nicht vorstellen. Millionen Menschen sind weggezogen, manche Städte haben die Hälfte ihrer Einwohner verloren. Natürlich war es dadurch schwer, die Zuversicht zu behalten. Ja, bei den Wachstumsraten steht der Osten inzwischen besser da. Aber Hauptsitze von Dax-Konzernen gibt es nach wie vor keine. Und ein Großteil der Wohnungen im Osten gehört Westdeutschen. Ist das ein Grund, um trotzig zu sein? Ich sage klar Nein. Aber vielleicht erklärt sich hieraus das verbreitete Gefühl, irgendwie benachteiligt zu sein.

Die AfD wirbt für sich als Partei für das deutsche Handwerk. Parteichef Tino Chrupalla ist mitunter Gast bei Veranstaltungen der Handwerkskammer Dresden. Wie AfD-nah ist das Handwerk?

Alle Parteien, auch die SPD und die Grünen, umwerben das Handwerk. Das ist keine Überraschung. Wir stehen für 5,6 Millionen Beschäftigte in Deutschland. Zusammen mit deren Angehörigen kommt man schnell auf ein Fünftel der deutschen Gesellschaft. Mir sind jedoch keine Statistiken bekannt, die eine höhere Affinität des Handwerks zu populistischen Parteien nachweisen. Aber da das Handwerk eine so große gesellschaftliche Gruppe umfasst, ist davon auszugehen, dass sich gesamtgesellschaftliche Strömungen im Handwerk ähnlich zu allgemeinen Wahlumfragen widerspiegeln.

Laut einer Allensbach-Umfrage sagen 43 Prozent der Ostdeutschen, dass der Sozialismus eine gute Idee ist, die nur schlecht umgesetzt wurde. Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören?

Ich wundere mich. Ich habe den Sozialismus erlebt – er war nicht gut. Ich bin groß geworden in einem Handwerksbetrieb, der von Enteignung bedroht war. Mein Vater wurde mehrfach von den Staatsorganen vorgeladen, und wir Kinder bangten jedes Mal, ob er wiederkommt. So etwas vergisst man nicht. Ich habe auch die maroden Betriebe gesehen. Die heruntergekommenen Wohnungen. Sollen wir die Bilder rausholen? Die DDR ist nicht untergegangen, weil Honecker krank war, sondern weil das System wirtschaftlich, ökologisch und moralisch bank­rott war. Nach meinem Dafürhalten ist der Sozialismus in Wahrheit eine Religion, die an der Utopie vom guten Menschen scheitert.

Warum wird er dann so verklärt?

Die Leute, die das jetzt erzählen, waren damals jung. Viele hatten, das gilt auch für mich, eine schöne Jugend. Aber das ändert nichts daran, dass die DDR ein Willkürstaat war. Wie man das im Nachhinein umdeuten kann, verstehe ich nicht.

Verzweifeln Sie manchmal an Ihren Landsleuten?

Meine Zuversicht lasse ich mir nicht nehmen. Aber glücklich bin ich persönlich nicht, wie sich die Dinge politisch entwickeln.

Das Verhältnis zwischen den Ampelparteien in Berlin gilt als zerrüttet. Die nächste turnusgemäße Wahl steht aber erst im Herbst 2025 an. Sollte die Koalition weitermachen, oder wären vorzeitige Neuwahlen besser?

Ich sehe die Regierung in der Pflicht, nach Lösungen zu suchen und diese zu finden. Ich traue es ihr intellektuell zu, dass sie im Herbst noch einmal Schwung aufnimmt. Sollte das nicht gelingen, dann könnte der gesellschaftliche Druck jedoch so steigen, dass Neuwahlen nicht mehr auszuschließen sind.

BDI-Chef Siegfried Russwurm sprach im Frühjahr von zwei verlorenen Jahren. Sie äußern sich nicht so offensiv. Warum?

Ich möchte, dass die Politik das Handwerk mit Respekt behandelt. Dann müssen wir uns umgekehrt auch so verhalten. Was bringt der Vorwurf, es waren zwei verlorene Jahre? Die vier großen Wirtschaftsverbände – BDI, BDA, DIHK und ZDH – arbeiten in enger Abstimmung daran, dass sich in der Wirtschaftspolitik etwas ändert. Wir lassen in Deutschland gerade sehenden Auges die Wettbewerbsfähigkeit vor die Hunde gehen. Mit einer Rezession in die nächste Bundestagswahl zu gehen, das würde nicht gut ausgehen.

Wer gibt aktuell das schlechteste Bild in der Koalition ab – der Kanzler, der Wirtschafts- oder der Finanzminister?

Was bringt es, da eine Rangliste aufzustellen? Die sind ja zusammen unterwegs. Wenn die ständigen Sticheleien und Schuldzuweisungen nicht aufhören, wird es in der Bundestagswahl für alle drei ein böses Erwachen geben.

Mit bösem Erwachen meinen Sie: ahnliche Werte für die AfD im Bund wie jetzt in Ostdeutschland?

Die Ränder würden weiter an Kraft gewinnen.

Im Frühjahr auf der Handwerksmesse mussten Sie sich von Olaf Scholz anhören, die Klage sei der Gruß des Kaufmanns. Gibt es überhaupt noch einen Gesprächsdraht zwischen der Wirtschaft und dem Kanzler?

Der damalige Termin war definitiv der Tiefpunkt im Verhältnis, hat aber zumindest den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Inzwischen hat sich die Sicht des Kanzleramts auf den Zustand der Wirtschaft unserer Einschätzung angenähert. Deutschland steht bei quasi allen Punkten der perspektivischen Wettbewerbsfähigkeit besorgniserregend schlecht da. Mir ist kein Bereich bekannt, in dem wir noch führend sind. Die Wirtschaft sta­gniert, die Steuer- und Abgabenlast hat ein Rekordniveau erreicht. Es gibt kein belastbares Konzept gegen die hohen Energiepreise. Wir werden nach hinten durchgereicht.

Das Energiekonzept sieht so aus, dass die Unternehmen flexibler produzieren sollen – dann, wenn es viel Solar- oder Windstrom gibt.

Das ist ja eine tolle Idee etwa für einen Bäcker, der nachts seine Brötchen bäckt. Soll der in Zukunft warten, bis die Sonne aufgeht? Im Ernst: So einfach geht es nicht. Hier braucht es ein energiepolitisches Gesamtkonzept, das auch grundlastfähige Stromangebote, Stromspeicher, Netze mitdenkt, um nur einige Komponenten zu nennen.

Wie oft haben Sie Scholz seit dem Termin in München getroffen?

Mehrfach. Für den Herbst sind weitere Treffen angesetzt. Wir sind dabei, das verloren gegangene Vertrauen wieder aufzubauen, aber uns geht es auch darum, Druck zu machen.

Anfang Juli hat die Ampel eine Wachstumsinitiative mit 49 Punkten vorgestellt. Was schätzen Sie, wie viele Punkte bis Jahresende umgesetzt sind?

Wenn es gut läuft vielleicht die Hälfte. Ich befürchte aber eher, dass wir in einer Größenordnung von fünf oder sechs landen werden.

Eine Idee ist ein Steuerbonus für Fachkräfte aus dem Ausland. Was halten Sie davon?

Im Grunde ist der Vorschlag das offizielle Eingeständnis der Regierung, dass die Steuern und Abgaben in Deutschland viel zu hoch sind. Warum sollten Zuwanderer bessergestellt werden, wenn hierzulande alles prima ist? Das ist es offensichtlich nicht. Arbeit muss sich für alle lohnen, nicht nur für Zuwanderer.

Ein weiterer Punkt sind steuer- und abgabenfreie Überstundenzuschläge.

Grundsätzlich ist es richtig, Anreize für Mehrarbeit zu geben. Dies ist auch eine Forderung des Handwerks. Allerdings kommt es auf die Details an. Was wir ganz sicher nicht gebrauchen können, ist ein neues bürokratisches Monster. Ich ahne, dass der Ruf nach umfangreichen Dokumentationen wegen des möglichen Missbrauchs kommt.

Ein höheres Renteneintrittsalter scheut sowohl die Ampel als auch die CDU. Ist Deutschland noch zu Reformen fähig?

Ich frage mich oft, wer heute eigentlich noch der Fürsprecher für die Interessen der jungen Generation ist. Die steigende Lebenserwartung kann nicht immer nur mehr Freizeit bedeuten. Das ist nicht gerecht. Wie hoch sollen die Beiträge zur Rentenversicherung denn noch steigen? Die Geschäftsmodelle im Handwerk sind jetzt schon unter Druck, weil die Lohnzusatzkosten so hoch sind. Was wir jetzt brauchen, ist eine große Sozialreform.

Die welche Punkte enthält?

Wenn wir uns in Europa umsehen – etwa in Dänemark, Schweden –, dann sehen wir: Viele Länder befassen sich mit diesen Fragen, ob und wie das Rentenalter an die Lebenserwartung gekoppelt werden kann. Oder welche Wirkung eine nur achtzigprozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf den Krankenstand hätte. Aber wenn solche Überlegungen in Deutschland in die Diskussion eingebracht werden, dann werden sie oft direkt als böse und sozialdarwinistisch abgetan. Es gibt keine Balance mehr im Sozialsystem. Doch einfach weiter so wird nicht funktionieren. Auch wir müssen uns bewegen und mindestens diskutieren, an welchen Schrauben wir drehen wollen im Konsens mit den Arbeitnehmern.

Wie oft bekommen Ihre Mitglieder von Bewerbern oder Mitarbeitern zu hören: Bürgergeld und Schwarzarbeit lohnt sich mehr als reguläre Arbeit?

Ich treffe im Handwerk viele konservative Menschen, die Gleichmacherei ablehnen. Die wollen, dass sich Leistung lohnt. Das tut sie aktuell nicht. Es kommt häufig vor, dass Mitarbeiter den Meistern vorrechnen, dass sie nur 100 Euro weniger am Monatsende hätten, wenn sie ins Bürgergeld wechseln würden. Der Begriff des Bürgergeldes impliziert fälschlicherweise, dass es sich um eine Wahlleistung handelt – und jeder für sich entscheiden kann: Gehe ich arbeiten, oder nehme ich Bürgergeld? Es muss wieder eine Sozialleistung für die wirklich Bedürftigen werden. Die Kritik am Bürgergeld kommt vor allem von den Leistungsträgern in den Betrieben.

Der Kanzler sagt: „So viel Bürokratieabbau wie in den letzten zwei Jahren war noch nie.“ Ist das so?

Ich widerspreche dem Kanzler hier vehement. Der Normenkontrollrat hat ausgerechnet, dass der Bürokratiezuwachs im Jahr 2023 bei 16 Milliarden Euro gelegen hat. Ich bin Dachdecker und soll neuerdings in Ausschreibungen bestätigen, dass ich die Russlandsanktionen einhalte. Was soll das? Ich kaufe das Material nicht in Moskau, und das zu deckende Dach ist auch hier. Da geht es vielfach einfach um Zettel, mit denen sich wieder irgendjemand absichern will. Ich sage: „Herr Bundeskanzler: Wir haben nicht weniger, sondern mehr Bürokratie.“

Dachdeckermeister aus Dresden

Jörg Dittrich ist seit Anfang 2023 Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) – und der erste Ostdeutsche in der Verbandsgeschichte in dieser Position. Der ZDH ist neben dem BDI, der BDA und der DIHK einer der vier großen Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft, mit denen sich Wirtschaftsminister und Kanzler regelmäßig treffen. Der 55 Jahre alte gebürtige Dresdner ist seiner Heimatstadt bis heute treu geblieben. Nach der polytechnischen Oberschule absolvierte Dittrich im Betrieb der Familie eine Ausbildung zum Dachdecker. In den Neunzigerjahren bildete er sich im Abend- und Fernstudium zum Bauingenieur weiter. Heute führt Dittrich neben dem Dachdeckerbetrieb in Dresden zusammen mit einem Partner noch einen Betrieb im polnischen Breslau, der  auf Modernisierungen und Abdichtungssysteme spezialisiert ist. Präsident des ZDH ist Dittrich im Ehrenamt. Er steht auch der Handwerkskammer Dresden vor. Dittrich ist verheiratet und hat sechs Kinder.

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