Auf 148 Seiten hat sich die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) gerade vom Pazifismus verabschiedet. Die entsprechende Denkschrift trägt den Titel Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick. An einer Stelle im Text heißt es: „Christlicher Pazifismus ist als allgemeine politische Theorie nicht zu begründen.“
Der Überfall auf die Ukraine hat auch die Friedensethik der Kirche über den Haufen geworfen. Aber war das überhaupt notwendig? In dem Papier selbst ist davon die Rede, man nehme einen „idealistisch-utopischen Überschuss“ zurück. Einer, der die Entwicklung weg vom Pazifismus kritisch sieht, ist der Politologe Hajo Funke.
der Freitag: Sind Sie evangelischer Pazifist, Herr Funke.
Hajo Funke: Ich bin katholisch sozialisiert und ein pragmatischer Pazifist, kein Fundamentalpazifist.
„Christlicher Pazifismus ist als allgemeine politische Theorie ethisch nicht zu begründen“, heißt es in der neuen Denkschrift zur Friedensethik der evangelischen Kirche. Pazifismus wird als „politischer Impulsgeber“ anerkannt, „der das Leitbild des Friedens als Orientierung für staatliches Handeln wachhält“, „als Ausdruck individueller Gewissensentscheidung“ bzw. „gelebter Frömmigkeit“ gewürdigt. Nimmt die Kirche ihre Pazifisten noch ernst?
Die Frage ist, ob sie Frieden, Prävention und zivile Konfliktlösung ausreichend ernst nimmt. Ziel muss sein, im Sinne eines pragmatischen Pazifismus, unter welchen Bedingungen man eine Eskalation befördert oder aber aktiv einzudämmen bemüht ist. Der Ukrainekrieg wäre vermeidbar gewesen, wenn man zuvor politisch entschiedener gehandelt hätte. Und die Kirche hat nicht interveniert.
Orientiert sich die Denkschrift genügend am Frieden?
Die Orientierung ist abstrakt zwar da, aber die Orientierung an Zeitgeistdebatten wie Hochrüstung, Konfrontation und eine ziemlich gewaltbereite Sprache sehr viel stärker. Das Wort „Kriegshysterie“ wird zwar vermieden, aber der Sound passt sich an den Mainstream der primitiven Feindbildkonstruktionen an.
Warum ist das so, was denken Sie?
Diese Denkschrift atmet den Geist der Aufrüstung und der Kriegsvorbereitung, der inneren und äußeren Militarisierung, und widerspricht der Tradition der Ethik der Gewaltfreiheit und des unbedingten Friedens. Selbst die Möglichkeit der Inbesitznahme von Atomwaffen für Deutschland wird nicht ausgeschlossen und damit die bisherige Abschreckungsbalance gefährlich außer Kraft gesetzt.
Ich bin ein guter Schütze, aber ich hätte lieber nicht gedient
„Zivile Konfliktbearbeitung“ kommt in der Denkschrift sechs Mal vor, „Gewalt“ 197 Mal. Dazu kommen Cyberattacken. Drohnenflüge. Sicherheitspolitik. Angesichts russischer Angriffe auf unsere Infrastruktur scheint die Denkschrift davon auszugehen, Deutschland befinde sich bereits im hybriden Krieg. Das Wort „hybride Kriegsführung“ kommt fast 40 Mal vor. Sind wir im hybriden Krieg?
Unsinn! Es gibt keine Kampfhandlungen in Deutschland, Cyberattacken reichen dafür nicht. Hybrid ist vergleichbar der Verbindung von E-Auto und Benzin. Wenn sie aber nur die E-Komponente haben, kann man nicht von Kriegshandlungen sprechen. Die Kirche müsste genauer hinsehen und laut und deutlich sagen, was ist: dass wir uns NICHT in einem hybriden Krieg befinden.
Haben Sie die Denkschrift gelesen? 148 Seiten …
In großen Zügen, die Kernvorstellungen.
„Doch distanziert sich die Denkschrift von früheren Positionen, die den Dienst ohne Waffe als ‚deutlicheres Zeichen‘ christlichen Friedenshandelns ansahen.“ Gehen Sie da auch noch mit?
Ich bin sehr für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, aus ethischen oder theologischen Motiven.
Waren Sie in der Bundeswehr?
Ich musste, ich wurde gemustert, habe vergeblich versucht zu verweigern. Also: Ja, ich bin ein guter Schütze, aber ich hätte lieber nicht gedient.
Dann können Sie nachvollziehen, dass evangelischer Frieden heute anders buchstabiert wird als vor dem russischen Angriff auf die Ukraine?
Dass es jede Menge Konflikte gibt, muss man anerkennen – Ukrainekrieg, Hamas, Israel, bürgerkriegsähnliche Massaker in Sudan und anderswo. Unter diesen Bedingungen muss man schauen, dass man Rechte verteidigen kann. Radikalpazifismus teile ich nicht. Auch die eigene, die deutsche Geschichte lehrt das: Ohne den militärischen Sieg der Alliierten wäre Hitler nicht in die Knie gezwungen worden. Verteidigungsfähigkeit ist notwendig gegen Willkür, gegen Genozid, gegen Kriege. Allerdings ist die Frage, mit welchen Begriffen man denkt und wie man handelt. Die UN-Charta hat eine Friedensorientierung grundgelegt und nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs Krieg als Krieg verworfen, in der EKD-Denkschrift wird darauf kaum referiert. Und vergessen wir nie: Krieg löst kein Problem, verschärft es nur.
Stattdessen ist schon im Titel von einem „gerechten Frieden“ die Rede. Neben der Waffenruhe müsse „auch Freiheit, Gerechtigkeitsperspektiven und ein friedensfördernder Umgang mit Pluralität aufscheinen“. Alles auf einmal?
Die UN haben bewusst auf den Begriff „gerechter Frieden“ verzichtet. Wichtig ist erstmal die Abwesenheit von Krieg, dann die Sicherung für ein gedeihliches Zusammenleben. „Gerechter Friede“ lädt das zu sehr auf und legitimiert dann eben umgekehrt ggf. auch iustus bellum, den gerechten Krieg. „Gerechter Frieden“ riskiert mehr Tote, als wenn man von „Frieden“ spräche und Waffenstillstand anstrebt. Erst gilt es, Leben zu schützen und zu retten, das andere kommt danach. Das alles hätte man sehr viel klarer sagen können – und das sind Schwächen, die dem Zeitgeist geschuldet sind. Gerechten Frieden gibt es letztendlich nur in einer Gesellschaft, die die Ursache von Krieg, Kapitalismus und Ausbeutung überwindet. Solange wollen wir doch nicht warten, um Friedensprozesse einzuleiten. Wir brauchen eine Rückkehr zur Politik der gemeinsamen Sicherheit.
Die Protestanten haben sich immer gern an die jeweilige Regierungslinie geschmiegt. Nach dem Matthäus-Motto „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ wird fein säuberlich getrennt – und theologisch unterstellte Schuldverstrickung durch weltliche Notwendigkeiten rechtfertigt. Laut Denkschrift bleibt jeder Einsatz von Gewalt „schuldbehaftet, auch wenn er notwendig erscheint“. Das heißt, man wird vor Gott schuldig, wenn man in dieser Welt Gewaltausübung implizierende Verantwortung für den Schutz vor Gewalt übernimmt, aber man kann nicht anders, weil die harte Welt es erfordert. Ein „Dilemma“. Gehen Sie mit?
Nein, ich halte die Schuldverstrickung für theologisch fragwürdig und auch ethisch für kritikwürdig.
Kirche muss appellieren an Verhandlungen, auch jetzt, sie muss auf diplomatischen Initiativen bestehen, anstatt mit Schuld und Sühne zu hantieren
Weil man sich damit einen schlanken Fuß macht?
Weil diese theologische Dilemma-Argumentation von friedenssichernden Maßnahmen wegführt. Der Schuld-Begriff hilft nicht weiter. Ich beziehe mich auf die Lage in der Welt und sage, was da ist und wie man friedenspolitisch aktiv wird.
Das tut die Kirche ja auch. Sie liefert dem CDU-SPD-Mainstream Argumente für Waffenlieferungen und Aufrüstung.
Zum Teil ist das nötig, aber die Denkschrift vermeidet eine verantwortungsethische Intervention. Das könnte Kirche! Es gibt eine „Pflicht zu wissen“ (Dietrich Bonhoeffer) um die Bedingungen der Möglichkeiten der Beendigung von Kriegen. Kirche muss appellieren an Verhandlungen, auch jetzt, sie muss auf diplomatischen Initiativen bestehen, anstatt mit Schuld und Sühne zu hantieren.
Sie meinen, die Kirche muss Frieden denken – und weniger Verteidigung oder gar „Kriegstüchtigkeit“? Auch diese wird genannt.
Auch daran erkennt man den Mainstream. Eine Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, hätte den Krieg in der Ukraine, hätte gar die Eskalation in Gaza verhindert. Die EKD-Denkschrift wäre dann gut, wenn es ihr gelingt, die Friedenspolitik ganz anders zu stärken. Sie muss Friedensbemühungen unterstützen – nicht Aufrüstungsbemühungen. Die gibt es doch ohnehin genügend! Wir brauchen evangelische und auch katholische Initiativen zur Diplomatie. Kirchenverantwortliche müssen fordern, dass keine Waffen mehr an Israel im Krieg um Gaza geliefert werden.
In die Ukraine aber schon?
Ja, zur Verteidigung, aber auch hier gilt, aktiv alles für Frieden zu tun, während man Waffen liefert. Und abzuwägen: Hilft der Einsatz von Taurus oder Tomahawk, die Existenz der Ukraine zu sichern – oder eskaliert es den Krieg, wie ich glaube.
Im Vergleich zur Friedensdenkschrift von 2007 sehen viele einen Bruch, die Denkschrift nennt es „Neuakzentuierungen der Dimensionen des Gerechten Friedens“. Wie nennen Sie es?
Ich nenne es Mainstream. Schutz vor Gewalt ist Konsens. Verteidigung zum Schutz vor Gewalt auch, prinzipiell, aber Kriegstüchtigkeit halt nicht. Die Anlehnung an den Mainstream hat eine analytische Schwäche zur Folge. Die Denkschrift öffnet sich dem Zeitgeist zu sehr und verliert damit an analytischer Schärfe und an politischer Überzeugungskraft. Es gibt keinen einzigen Hinweis, dass Putin die NATO angreifen wird, das sagt auch der US-Geheimdienst. Ständig wird das anders dargestellt, so dass der Mainstream kriegsfördernd und nicht kriegsverhindernd ist. Dazu erwarte ich eine Stellungnahme der EKD und der deutschen Bischöfe.
Die Denkschrift spricht sich aus gegen „ein Töten ohne Rechtsgrundlage“, lässt aber unter bestimmten Bedingungen ein Töten mit Rechtsgrundlage ethisch gelten. Sie auch?
Verteidigungsfähigkeit schließt ein, dass man das auch mit der Waffe tut, ja. Aber damit ist das riesige Problem nicht geklärt, wie das präventiv zu vermeiden ist durch eine kluge Diplomatie, gemeinsame Sicherheit in Europa. Wenn man angegriffen wird, muss man das Land mit der Waffe verteidigen, ja – aber mit der Perspektive, baldmöglichst und entschieden auf einen Kompromiss hinzuwirken, auf eine Eindämmung des Krieges.
Auf der Synode 1987 hatte die EKD „Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ noch eine Absage erteilt. Nun heißt es, atomare Abschreckung könne „politisch notwendig“ sein. Das klingt fast, als würde die evangelische Kirche demnächst eine deutsche Atombombe weihen, solange sie nicht geworfen wird. „Der Besitz von Nuklearwaffen kann sicherheitspolitisch notwendig sein, auch wenn ihr Einsatz durch nichts zu rechtfertigen ist“, heißt es. Unterwirft Kirche sich damit dem Zeitgeist?
Ja, wie beim „hybriden Krieg“. Es ist zu unkonkret, Beispiele fehlen. Als Politikwissenschaftler sage ich das ganz nüchtern. Atomwaffen für Deutschland wären eine ungeheure Gefährdung, weil sie die Balance zwischen NATO und Russland durcheinanderbrächten, die ganze Abschreckungsbalance wäre dahin. Um Gottes Willen keine Atomwaffen auf deutschem Boden! Atomwaffen schaffen keinen Frieden, Abschreckung ist ohnehin ein Vabanquespiel oder ein Glaube – für Christen nicht akzeptabel.
Verantwortliche machen sich so oder so schuldig, sagt die Denkschrift – vor Gott, nicht vor weltlichen Richtern. Ob sie Atomwaffen besitzen oder nicht. Weil jede Entscheidung falsch sein kann.
Wie gesagt: Der theologische Schuldkomplex passt meines Erachtens nicht in die Friedensethik. Wir müssen sehen, unter welchen Bedingungen wir Kriegsgefahr erhöhen und unter welchen wir sie vermindern. Was dient einem Mehr, was einem Weniger an Frieden – und nicht, wer wem gegenüber schuldig wird.
Und die Denkschrift tut das nicht?
Sie müsste sehr viel radikaler sein. Ich wünschte mir, dass sich evangelische Interventionen zur Forderung nach diplomatischen Initiativen zur Beendigung der Kriege an die Bundesregierung richten. Die Forderung nach diplomatischen Initiativen nach einer Politik der gemeinsamen Sicherheit. Ich bin für ein Zurück zu Carl Friedrich von Weizsäcker, Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer und nicht für ein Anbiedern an Merz und Pistorius.
Hans-Joachim „Hajo“ Funke (geboren 1944) ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Zuletzt erschien von ihm Ukraine. Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden.