Theater spielen, während Raketen über das Land fliegen, das ist in Israel schon lange Realität. Doch der Krieg, den die Hamas vor zehn Monaten begonnen hat, hält das Land im Schockzustand. Wie spielt man Theater im Krieg? Und: Was spielt man, wenn das Trauma des 7. Oktober 2023 nicht verheilen kann, weil immer noch Geiseln im Gazastreifen sind? Die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Hadar Galron spricht immer nur von „der Situation“, in der Israel sich befinde. Sie hat selbst ein Stück darüber erarbeitet und leitet ein internationales Theaterfestival, das im November in Tel Aviv stattfinden soll.
der Freitag: Frau Galron, vor gut zehn Monaten überfiel die Hamas Israel, seither ist Krieg. Anfangs waren die Theater für einige Wochen geschlossen und viele dachten, Routine sei erst wieder möglich, wenn die Geiseln zurück sind. Einige werden immer noch in Gaza festgehalten, aber die Theater spielen wieder. Wie ist die Lage heute?
Hadar Galron: Niemand dachte, dass es so lange dauern und so kompliziert sein würde. Niemand dachte, dass die Rückkehr der Geiseln nicht das Erste wäre, worum man sich kümmert. Also niemand in meinem Umfeld jedenfalls. Jetzt herrscht ein Gefühl der Stagnation. Alles ist so festgefahren. Und die Leute versuchen, in dieser Starre zu leben. Und ein Teil davon ist das Theater.
Der israelische Theatermacher Gad Kaynar Kissinger sagte in einem Interview vergangenen Oktober, das israelische Theater vor dem 7. Oktober sei sehr eskapistisch gewesen. Ist das immer noch so?
Ich habe ein paar Stücke laufen, davon ist keines Eskapismus. Aber es ist so schwer, die Leute dazu zu bringen, sich ein Stück über, sagen wir, posttraumatische Belastung anzusehen. Es ist viel leichter, sie dazu zu bewegen, ein Musical oder Comedy zu sehen.
Man bekommt also nur Unterhaltung geboten?
Vor allem in den Repertoiretheatern. Ich finde, sie machen ihren Job nicht. Der wäre, ein Spiegel der Gesellschaft zu sein. Aber in der freien Szene geschieht einiges, in den kleinen, weniger subventionierten Theatern. Dort trauen sich die Leute mehr, Fragen zu stellen und die Realität zu konfrontieren. Ich selbst habe ein Stück erarbeitet, mit Schauspielschülern, über die Situation. Es hieß Tiger on my back und es war ein privates Theater, das das Stück schließlich übernahm.
Zugleich haben die Theater immer wieder öffentliche Aktionen organisiert, um auf die Situation der Geiseln aufmerksam zu machen.
Ja, die ganze Zeit, wir gehen auch andauernd demonstrieren und sind dabei kreativ. Neun Monate nach dem 7. Oktober gab es zum Beispiel eine Demonstration, bei der alle Frauen mit runden Bäuchen auftraten. Wir wissen, dass die Geiseln in Gaza vergewaltigt werden, viele kamen schwanger zurück. Was ist mit denen, die noch dort sind? Haben sie Kinder auf die Welt gebracht? Das ist zu schrecklich, um es sich vorzustellen. Aber wir müssen uns auch unseren inneren Problemen stellen und nicht nur mit einem äußeren Feind fertigwerden. Und mit „uns“ meine ich alle, die Araber, die Drusen, die Beduinen, Israelis, Juden.
Verstehe ich das richtig, Theatermacher nehmen an Demonstrationen teil, aber auf den Bühnen sieht man Unterhaltung?
Sie denken sehr kommerziell, wenn es darum geht, was die Leute brauchen, was sie sehen wollen. Anstatt die Leute zu uns hochzuholen, gehen wir zu ihnen hinunter. Viele sind hier auf Beruhigungsmitteln und das Repertoiretheater ist ein weiteres. Ein Grund, sich schick anzuziehen und auszugehen. Und vor jeder Aufführung haben wir dann die Ansage: Wenn die Sirene ertönt, wenn eine Rakete kommt, gehen Sie dahin und dorthin, je nachdem. Eine verrückte Situation.
Konnten Sie nach dem 7. Oktober noch künstlerisch arbeiten?
Ich persönlich habe seit dem 7. Oktober nicht aufgehört zu schreiben. Ich schreibe und schreibe. Und es geht immer um die Situation, egal ob ich ein Theaterstück, Poesie oder journalistische Artikel schreibe. Ich versuche herauszufinden, was das ist, wo wir stehen. Wissen Sie, die Familie meines Vaters floh aus Marokko, die Familie meiner Mutter floh aus Polen, sie trafen sich in London. Ich kam mit 13 Jahren nach Israel und für mich war das der Moment, in dem ich fühlte, wirklich ein Zuhause zu haben. Und diese grundlegende Sache ist plötzlich kaputt. Es wird Jahre dauern, bis wir verstanden haben, wie tief der 7. Oktober geht.
Sie sagten, in der freien Szene gäbe es schon Ansätze, sich der Situation zu stellen. Wie sehen diese aus?
Es gibt zum Beispiel das Stück On the way home | Repeat Sign von Danielle Cohen Levy. Das spielt in einem kleinen Raum, eine junge Mutter zieht Verbindungen vom Jom-Kippur-Krieg 1973 zum 7. Oktober. Es ist wie eine Reflexion über die Menschen, die wir verloren haben. Sie beendet das Stück unter Tränen mit der Frage: In was für eine Welt habe ich mein Kind gebracht?
Gibt es auch Arbeiten, die sich mit der Situation der Araber auseinandersetzen?
Igal Ezrati vom arabisch-jüdischen Jaffa Theatre hat sein Stück Longing – Exile from Home von 2002 wieder aufgenommen, angepasst an den Kontext des 7. Oktober. Da sprechen Juden und Araber von einem sehr subjektiven Standpunkt aus über Heimat, die verlorene und die ersehnte. Es verknüpft die Perspektive der Araber, die hier vor 1948 lebten, mit der der Juden, die hierherflohen. Es ist eine sehr schöne erzählende Performance, mit viel Musik.
Und worum geht es in Ihrem Stück „Tiger on my back“?
Um einen jungen Orthodoxen, der mit einer Freundin heimlich auf das Nova Festival fährt. Er kann sich zunächst an nichts erinnern und erfährt später, dass sie ermordet wurde. Es hatte im Juni Premiere, aber derzeit arbeite ich an einer neuen Produktion – mit tatsächlichen Überlebenden des Massakers.
Sie leiten die diesjährige Ausgabe des Festivals International Exposure of Israeli Theatre. Vergangenes Jahr musste es online stattfinden. Wie laufen die Planungen?
Das Festival wird in Israel stattfinden, denn in Tel Aviv ist die Lage okay. Derzeit sind wir noch im Auswahlprozess der Stücke, die wir zeigen wollen. Früher haben wir jedes Jahr über 200 Stücke eingereicht bekommen. Dieses Jahr sind es nur 70. Die Leute waren im Schock und haben nicht geschrieben. Und viele sind einfach mit anderen Dingen beschäftigt, mit freiwilliger Arbeit für die Evakuierten zum Beispiel.
Und was für Stücke hat die Kommission bekommen?
Es laufen Klassiker wie die Stücke von Hanoch Levin. Und es wird auch Dinge geben, die nichts mit dem Krieg zu tun haben. Es gibt ein Stück, das ich sehr gerne bringen würde – wir haben noch nicht abgestimmt, und ich weiß, dass ich da in der Minderheit bin –, es stammt von russischen und ukrainischen Bürgern, Israelis, die von dort geflohen sind.
Wie ist die Beziehung zwischen dem Theater in Israel und der internationalen Theaterszene?
Wir schicken gerade erst die Einladungen raus und wir fangen mit unseren Freunden an. Aber natürlich gibt es Leute, die in der Vergangenheit hier waren und die jetzt sagen: Wir freuen uns, von euch zu hören, wenn der Krieg vorbei ist. Auf der anderen Seite gibt es Länder, die gerade nicht gut auf uns zu sprechen sind, wie China, und deren Vertreter trotzdem kommen wollen.
Wen laden Sie denn ein?
Intendanten, Regisseure, Autoren, auch Übersetzer. Die Rückmeldungen waren bisher besser, als wir dachten. Es gab auch Absagen, aber niemand war unverschämt grob. Vielleicht liegt es auch am Motto, das wir dieses Jahr gewählt haben: „Building Cultural Bridges.“ Diejenigen, die unsere Einladung bekommen, kriegen nicht den Eindruck, dass wir so tun wollen, als wäre alles normal. Uns ist klar, dass es eine schwierige Zeit ist. Und dass es sein kann, dass viele Leute zusagen und dann am Tag vorher alle Flüge gestrichen werden, oder so. Wir versuchen eben, mit dem Tiger auf dem Rücken zu leben.
Hadar Galron kam 1970 in London zur Welt. Sie wuchs in einer orthodoxen Familie auf und zog mit 13 Jahren nach Israel. In Tel Aviv studierte sie Theater, in ihren Stücken bearbeitet sie häufig Themen rund um Geschlecht und Religion