Haben wir Solidarität verlernt? Diskussion um Bürgergeld nervt nur noch

Haben wir Solidarität verlernt? Diskussion um Bürgergeld nervt nur noch

Wer als Armutsbetroffene die politischen Diskussionen über das Bürgergeld und die Kindergrundsicherung verfolgt, wird enttäuscht: Die ambitionierten Pläne für die Kindergrundsicherung, die auf eine Bürokratiereform geschrumpft wurden, und den Namen „Grundsicherung“ nicht mehr verdienen, sind nun zu einem „Eventuell schaffen wir es noch, diese Legislaturperiode Fragmente davon zu verwirklichen“-Projekt geworden. Ein Trauerspiel. Jeder Mensch sollte sich darüber empören, dass es nicht wichtig genug ist, die Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen.

Ich frage mich, warum bei den Regierenden so wenig Bewusstsein über das Armutsproblem in Deutschland herrscht. Mir kommt es vor, als wenn immer nur kurzfristig darüber nachgedacht wird, was alles in eine Legislaturperiode politisch durchzusetzen ist. Warum denken Politiker/innen nicht langfristiger?

Kinder sind zukünftige Steuerzahler/innen. Und die Generation, die mit dem leben muss, was wir heute für sie verändern, allen voran in der Klimapolitik. Für mich ist das Ergebnis bis jetzt enttäuschend: Dass die nächste Generation sich im Stich gelassen fühlt, wundert mich nicht. Was für ein Signal ist es an die jungen Menschen, dass die Kindergrundsicherung womöglich gescheitert ist? Was denken diese nicht geförderten Kinder darüber, wenn sie erwachsen sind? Es tut weh, nicht gesehen und beachtet zu werden. Vor allem, wenn Fakt ist, dass die Kinderarmut in Deutschland seit Jahren kontinuierlich steigt.

Wir haben ein politisches Klima, das sich zu sehr in Richtung Populismus entwickelt: Kurzzeitige Emotionen und Meinungen, die ein Ventil für Frust, Wut und leider auch Hass sind. Ich vermisse klare Ansagen und Ehrlichkeit. Ich will keine „Sündenböcke“ und Scheindebatten, sondern wünsche mir, dass Probleme benannt werden, ohne sie für eine bestimmte politische Agenda auszunutzen. Unsere Regierenden haben es nicht leicht mit den Nachwirkungen der Pandemie, dem Rechtsruck, dem Angriffskrieg von Russland in der Ukraine und einer Bevölkerung, die sich nicht mehr „alles“ gefallen lassen möchte. Was dieses „Alles“ definiert, liegt in den Augen des Betrachters.

Einsparungen bei Sozialpolitik sind Gift für unsere Gesellschaft

Der größte Fehler ist aber, in der Sozialpolitik einzusparen. Ebenfalls fatal: An den Ausgaben für politische Bildung zu sparen, sowie bei der Förderung von Migrant/innen und ausländischen Studierenden. Es bleibt kontraproduktiv, in der Kinder- und Jugendarbeit Gelder kürzen zu wollen. Denn eine Sparpolitik, die auf dem Rücken der Armutsbetroffenen ausgetragen wird, schadet dem gesellschaftlichen Klima und am Ende auch unserer Demokratie. Jede politische Entscheidung, die die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklaffen lässt, ist Gift für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Wer Sozialneid, Unsicherheit und Existenzängste schürt, untergräbt letztendlich auch mein Vertrauen in die Politik.

Für mich stellt sich nur diese Frage: Haben wir Solidarität verlernt? Sind wir nur noch auf unseren eigenen Vorteil bedacht, egal was es kostet? Ich frage Sie, was wird für Sie als Steuerzahler/in besser, wenn Armutsbetroffene weniger Geld zur Verfügung haben?

Gern außer Acht gelassen wird aber, dass eine Absenkung des Regelsatzes einen geringeren Steuerfreibetrag bedeuten würde. Das heißt dann aber auch: Wenn das Existenzminimum steigt, steigt automatisch Ihr Steuerfreibetrag. Würde es daher nicht Sinn machen, sich für mehr Geld als das Existenzminimum einzusetzen? Denn Egoismus macht unsere Situation nicht besser.

Wann sind Strafen schon effektiv?

Bei all den Vorschlägen von Herrn Linnemann (CDU) frage ich mich ernsthaft: Gibt es Menschen ein gutes Gefühl, wenn Bürgergeldempfänger zwei Monate voll sanktioniert werden sollen oder Ihnen Hilfen ganz gestrichen werden sollen? Mal ganz davon abgesehen, dass diese Regelung verfassungswidrig ist, aber wenn es um Bürgergeldempfänger-/innen geht, scheint die CDU/CSU die Verfassung weniger ernst zu nehmen. Glauben Sie wirklich, Strafen sind effektiver als das Fördern von kooperativem Verhalten und der Begegnung auf Augenhöhe?

Ich fand ein sehr schönes Zitat im Buch Armut in einem reichen Land des Armutsforschers Christoph Butterwege: „Wie eine Gesellschaft ihre Armen sieht, und behandelt, ist der Prüfstein dafür, ob sie als human, sozial oder demokratisch gelten kann.“

Daher ist die Frage angebracht: In was für einer Gesellschaft wollen Sie leben?

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen auf X @armutsbetroffen

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