Wasserstoff gilt als eine Art Allzweckwaffe der Energiewende, weil das Gas sauber verbrennt, sich speichern und transportieren lässt. Entsprechend trieb die Ampelkoalition den Markthochlauf voran. Auch eine Unions-geführte Bundesregierung würde wohl weiter auf Wasserstoff setzen. Doch der Aufbau des Marktes müsse „schneller, bunter, breiter“ geschehen, heißt es in einem Diskussionspapier. 12 Fragen und Antworten, die für die neue Regierung wichtig werden.
Wie geht es nach dem Ende der Ampel mit dem grünen Gas weiter?
Der Bau des Kernnetzes, das Großverbraucher demnächst mit Wasserstoff versorgen soll, ist mittlerweile gesetzlich verankert und wird auf jeden Fall kommen, versichert der Chef des Netzbetreibers Thyssengas, Thomas Gößmann. Unklar ist, was aus der halben Milliarde Euro wird, die im Haushaltsentwurf für 2025 für die Umsetzung der Nationalen Wasserstoffstrategie vorgesehen war. Außerdem sind zwei wichtige geplante Gesetze noch nicht vom Bundestag beschlossen: Das H2-Beschleunigungsgesetz, das Erleichterungen für den Bau von Elektrolyseuren und Speichern vorsieht, sowie das Kraftwerkssicherheitsgesetz, welches die Ausschreibung von Gaskraftwerken regelt.
Warum ruht so viel Hoffnung auf dem Wasserstoff?
Gerade in der energieintensiven Industrie gibt es viele Prozesse, die sich nicht elektrifizieren lassen. „Die Stahlindustrie in Deutschland ist für große Mengen CO2-Emissionen verantwortlich und hat selbst ein großes Interesse daran, durch den Einsatz klimaneutraler Gase sehr schnell zu einer CO2-Reduktion zu kommen“, sagt Katherina Reiche, die Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats der Bundesregierung, im Gespräch mit der F.A.Z. Auch die Chemie- und Düngemittelproduktion sowie Raffinerien seien „ganz wichtige Schlüsselspieler“.
Hinzu kommen die Gaskraftwerke, in denen künftig Wasserstoff verbrannt werden soll. „Wenn man es ernst meint mit der Energiewende, dann führt kein Weg daran vorbei, ein Energiesystem zu schaffen, in dem Wasserstoff eine integrale Rolle spielen wird“, glaubt Werner Ponikwar. Das muss er auch glauben, schließlich ist er Vorstandschef des Elektrolyseur-Herstellers Thyssenkrupp Nucera und macht sein Hauptgeschäft mit dem Anlagenbau für die Wasserstoffherstellung. Ihm ist aber wichtig, dass der Wasserstoff in der Energiewende „nicht die Hauptrolle“ spielen wird. Durch die öffentliche Diskussion entstehe „manchmal eine falsche Wahrnehmung“.
Warum sind gerade alle so besorgt?
Zuletzt häuften sich schlechte Nachrichten rund um grünen Wasserstoff. Wichtige Leitungen, die Deutschland mit Dänemark oder Norwegen verbinden sollten, kommen später oder gar nicht. Die Energiekonzerne Uniper und RWE wollen langsamer in Elektrolyseure investieren, weil die Nachfrage klein sei. So hatte Stahlhersteller Thyssenkrupp – potentiell ein bedeutender Kunde – die Anschaffung einer staatlich geförderten, milliardenteuren Direktreduktionsanlage, die mit Wasserstoff laufen soll, zwischendurch infrage gestellt.
Zwar gibt es mittlerweile viele Bekenntnisse zum Weiterbau, glasklar entschieden ist das aber nicht. Käme die Anlage nicht, würde das den Wasserstoffhochlauf stark zurückwerfen, glaubt Thyssengas-Chef Gößmann. Der Bedarf der Stahlindustrie in einem klimaneutralen Deutschland werde einen großen Teil der gesamten Wasserstoffnachfrage ausmachen – etwa 15 Prozent, sagt Frank Peter, der in der Denkfabrik Agora Energiewende Industriethemen betreut.
War der jahrelange Hype um Wasserstoff also übertrieben?
Das vermutlich nicht – das grüne Gas wird auch weiterhin unverzichtbar sein, weil es für die Dekarbonisierung nur wenige Alternativen gibt. Werner Ponikwar von Thyssenkrupp Nucera sagt: „Wir sollten uns nicht zu sehr ins Bockshorn jagen lassen von schlechten Nachrichten.“ Doch viele Akteure in der Industrie weisen darauf hin, dass sich die Entwicklung des Marktes in Deutschland und Europa nach wie vor in einem Anfangsstadium befindet. Reiche diagnostiziert eine „Verschiebung des Hochlaufes von drei bis fünf Jahren, aber sicher keinen Abbruch“.
Sie warnt vor zu viel Euphorie: „Wer angenommen hat, dass sich eine komplette Transformation der Volkswirtschaft innerhalb von drei, vier Jahren vollzieht und sich in diesem Zeitraum eine ganz neue Wasserstoffwirtschaft aufbaut, der verkennt maßgeblich, dass auch die erneuerbaren Energien fast 20 Jahre gebraucht haben, bevor sie so hoch skaliert und preiswert wie heute waren. Sich immer an Zielen festzuhalten und die Realität auszublenden führt nur zu permanenten Enttäuschungen.“
Was kostet grüner Wasserstoff derzeit?
Die Produktionskosten in Deutschland liegen derzeit bei acht bis zehn Euro je Kilogramm. „Wenn der Strompreis so hoch bleibt, ist die Produktion von heimischem Wasserstoff nicht konkurrenzfähig“, warnt Reiche. Außerdem ist der Gaspreis seit der Energiekrise wieder so stark gefallen, dass (aus Erdgas erzeugter) blauer und insbesondere grüner Wasserstoff es schwer haben, preislich mitzuhalten. Die Preisprognosen für die Zukunft sehen ebenfalls schlecht aus. „Unsere Analysetools sagen, dass wir mittlerweile 2030 von doppelten bis dreifachen Kosten für den grünen Wasserstoff ausgehen müssen, als das noch in der frühen Planungsphase um 2020 der Fall war“, berichtet Frank Peter von der Denkfabrik Agora Energiewende.
Warum ist das grüne Gas noch nicht wettbewerbsfähig?
Die Industrie kritisiert strenge EU-Vorgaben. Ponikwar gibt ein Beispiel: „Die Richtlinien der EU definieren unter anderem, was grüner, also emissionsloser Wasserstoff ist. Eine zeitliche und eine örtliche Korrelation muss gegeben sein zwischen grüner Stromproduktion und Elektrolyse. Das führt dazu, dass man eine Elektrolyseanlage, die mit einem Solarfeld korreliert ist, die Hälfte des Tages gar nicht betreiben kann, weil nun mal nachts keine Sonne scheint. Dass das nicht kosteneffizient ist, ist ja klar. Und das macht den grünen Wasserstoff sehr viel teurer.“
EU-Regeln besagen außerdem, dass Wasserstoff nur grün ist, wenn für ihn in zusätzliche Erneuerbare-Energie-Anlagen investiert wurde. „Das wäre ungefähr so, als hätte man bei den ersten Windkraftanlagen oder Solarpaneelen festgelegt, dass sie nur dann Strom einspeisen dürfen, wenn es einen garantierten Abnehmer gibt“, kritisiert Reiche, die nicht nur Chefin des Wasserstoffrates ist, sondern im Hauptberuf auch den Stromverteilnetzbetreiber Westenergie leitet. Damals sei man deutlich pragmatischer vorgegangen. „Die straffe Regulierung für Wasserstoff kann für ein eingespieltes System später sinnvoll sein, aber nicht bei einzelnen Projekten in einer Hochlaufphase.“ Auch in der Elektromobilität warte man nicht, bis der Strom zu 100 Prozent grün ist.
Wäre andersfarbiger Wasserstoff eine Alternative? Was ist der Unterschied zwischen grün, blau und grau?
Reiche fordert: „Lasst uns die Farbenlehre zunächst über Bord werfen.“ Sie schlägt vor, Elektrolyseure mit dem zur Verfügung stehenden Strommix zu betreiben statt mit 100 Prozent Ökostrom. Dieser Wasserstoff wird dann als grau bezeichnet, weil er aus „Graustrom“ gewonnen wird. Außerdem könne man Erdgas in einer Dampfreformierungsanlage nutzen, um daraus blauen Wasserstoff zu erzeugen und das anfallende CO2 abzuscheiden. Reiche fasst es so zusammen: „Das Ziel ist grün, der Weg ist bunt.“ Die Ampelkoalition hatte geplant, die Abscheidung, Lagerung und den Transport von CO2 explizit zu erlauben. Der Bundestag hat das entsprechende Gesetz allerdings noch nicht verabschiedet.
Ein großes Problem auf dem Markt ist die fehlende verbindliche Nachfrage. Wie könnte man sie ankurbeln?
Dazu liegen mehrere Vorschläge auf dem Tisch. Reiche sieht einen Hebel in Vorschriften zur Anrechenbarkeit von erneuerbaren Kraftstoffen nichtbiogenen Ursprungs (RFNBOs), zu denen Wasserstoff und seine Derivate zählen. Die sogenannte Treibhausgasminderungsquote sei der wesentliche Treiber für den Einsatz von Wasserstoff in Raffinerien und somit für den Verkehrssektor. Die vor wenigen Tagen vom Kabinett beschlossene Anpassung sei zwar ein richtiger, aber noch nicht auskömmlicher Schritt. Notwendig wären schneller höhere Quoten.
Eine andere Idee ist, Gasverkäufern über langsam steigende Quoten vorzuschreiben, grüne Gase zu einem bestimmten Anteil dem bestehenden Erdgasnetz beizumischen. „Das wäre ein Ansatz, in einen globalen Markt ein Signal zu senden, dass Deutschland ein langfristiges Interesse hat, große Volumina Wasserstoff in den Markt zu integrieren“, sagt Reiche. Arne Dammer von Thyssengas fordert, die bislang unverbindlichen Absichtserklärungen der Industrie zu künftigen Bedarfen zügig in verbindliche Verträge zu überführen.
Warum werden vor allem einzelne große Nachfrager wie Thyssenkrupp oder Salzgitter gefördert?
Das hat mit den europäischen Beihilferichtlinien (KUEBLL) zu tun: Demnach werden ausschließlich Investitionen in einzelne Anlagen für je einen bestimmten Zeitraum gefördert. „Die EU liebt Leuchttürme“, sagt Reiche. Sie fordert, die gesamte Wertschöpfungskette zu betrachten. Ein weiterer Nachteil sei, dass die EU die Förderung von Produktionskosten verbiete, obwohl diese den wichtigsten Kostenblock ausmachten. „Die Amerikaner regeln das pragmatischer.“ Ähnliche Forderungen kommen aus der Energiewirtschaft. Markus Krebber, Chef des Energieriesen RWE , sagte kürzlich im F.A.Z.-Interview: Neben den Leuchtturmprojekten solle man „über einen breiteren Anreiz der Nachfrageseite nachdenken, damit es für Infrastrukturbetreiber und Anbieter einen Markt gibt“.
Was genau hat es mit dem Kernnetz auf sich, das nun genehmigt ist und bis 2032 stehen soll?
Egal wen man in der Branche fragt – alle loben die Genehmigung der gut 9000 Kilometer Leitungen nach gerade einmal 18 Monaten Planung als enorm wichtiges Signal für Investoren. Die KfW geht im Auftrag des Bundes zunächst mit 24 Milliarden Euro Kredit für Bau und Betrieb in Vorleistung. „Bei Transformationsprojekten ist häufig die Infrastruktur ein Nadelöhr“, sagt Reiche. „Also etwa bei Elektroautos, denen die Ladesäulen gefehlt haben, oder Windkraftanlagen ohne Anschluss an Stromleitungen.“ Beim Wasserstoff gehe die Bundesregierung zum Glück einen anderen Weg. Noch offen ist, ob und wie die 1,9 Millionen mittelständischen Industriebetriebe angebunden werden, die aktuell am Gasverteilnetz hängen. Im Kernnetz sind viele T-Stücke eingeplant, die eine Anbindung theoretisch ermöglichen.
50 bis 70 Prozent des Bedarfs sollen laut Bundesregierung 2030 aus Importen gedeckt werden. Wie sieht es mit der Infrastruktur dafür aus?
Markus Krebber von RWE ist der Meinung, auch hier sei der Staat gefordert. „Beim Kernnetz geht zu Recht der Staat voran, er müsste aber auch bei der Importinfrastruktur helfen“, sagt er. Nucera-Chef Werner Ponikwar sieht „erfreuliche Bewegungen“ auch in anderen Ländern, wenn es darum geht, das europäische Wasserstoffnetz aufzubauen, „sehr konkret zum Beispiel in Italien, Spanien und Portugal“. Derzeit fehlen aber noch wichtige Verbindungen, zum Beispiel aus Nordafrika nach Italien und Spanien. Auch zwischen Spanien und der Bundesrepublik gibt es aktuell noch keine Gasleitung. Und die Industriezentren in Nordrhein-Westfalen brauchen eine enge Anbindung an die Häfen Rotterdam, Amsterdam, Antwerpen und Seebrügge. „Faktisch wird dieser Ausbau in Phasen passieren müssen“, sagt Ponikwar. „Wir können nicht alles gleichzeitig machen.“
Und aus welchen Ländern soll der Wasserstoff kommen?
Reiche verweist darauf, dass die ersten siegreichen Gebote der Europäischen Wasserstoffbank überwiegend aus Norwegen, Finnland, Spanien und Portugal kamen. Also von dort, wo es schon jetzt viel Strom aus CO2-armer Erzeugung gibt und die Gestehungskosten von Wasserstoff relativ niedrig sind: Im Norden häufig Wasserkraft und Kernenergie, im Süden viel Sonne. „In Skandinavien und in Südeuropa besteht also die Chance, dass wir dort zügig zu einer Wasserstoff-, Methanol- oder Ammoniakproduktion kommen“, glaubt die ehemalige CDU-Politikerin.
Außerdem gebe es Projekte im Nahen Osten und in Marokko oder Ägypten. „Ob und was uns zukünftig aus weit entfernten Regionen wie Australien oder Kanada erreicht, lässt sich schwer vorhersagen. Vermutlich werden es eher Derivate sein: Vorprodukte wie Methanol, Ethanol oder Kraftstoffe.“ Die USA und Kanada würden sich sehr stark pazifisch orientieren, also an Japan, Südkorea, Malaysia und Australien.