Griechenland-Wahl: War da was?

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Für Kyriakos Mitsotakis ist klar, worum es bei der Parlamentswahl am Sonntag geht. „Die Bürger müssen entscheiden, ob wir weiter voranschreiten oder in eine Vergangenheit zurückkehren, von der ich glaube, dass wir sie vergessen wollen“, sagte der griechische Ministerpräsident kürzlich in einer TV-Debatte. Das war eine Anspielung auf jenen Mann, der unmittelbar neben ihm saß: Alexis Tsipras, Chef des Bündnisses der radikalen Linken (Syriza) und viereinhalb Jahre lang Premierminister, bis Mitsotakis und seine konservative Nea Dimokratia (ND) ihn in der Wahl vom Juli 2019 ablösten.

Jetzt erlebt Griechenland eine Neuauflage der damaligen Konstellation. Mitsotakis sieht sein Land „am Scheideweg zweier Welten“. Er weckt damit Erinnerungen an eine turbulente Zeit, die wohl auch der Syriza-Chef am liebsten vergessen möchte. 2015 führten Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis mit ihrem Konfrontationskurs gegenüber den internationalen Gläubigern das Krisenland binnen weniger Monate zur Zahlungsunfähigkeit. Mit Russland verhandelte Tsipras vergeblich über den Druck von Banknoten, um den Euro durch eine eigene Währung zu ersetzen. Varoufakis ließ die Banken schließen und führte Kapitalkontrollen ein. Schließlich musste die Syriza-Regierung vor den Gläubigern kapitulieren. Die Euro-Partner stellten ein drittes Rettungspaket zusammen, um Griechenland vor dem Staatsbankrott zu bewahren. Die Hilfe war an strikte Spar- und Reformvorgaben geknüpft, die Tsipras weitgehend erfüllte.

Nach vier Jahren Mitsotakis steht Griechenland heute ganz anders da. Niemand spricht mehr vom Grexit, dem Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Das Land befindet sich kurz vor der Rückkehr in die Liga der kreditwürdigen Schuldner. Kein anderes EU-Land hat seine Schuldenlast in den vergangenen zwei Jahren so schnell abgebaut, nämlich um 35 Prozentpunkte – von 206,3 auf 171,3 Prozent der Wirtschaftsleistung. 

Hohe Steuereinnahmen

Zu verdanken ist das fiskalischer Disziplin und starkem Wirtschaftswachstum. In den beiden vergangenen Jahren legte das Bruttoinlandsprodukt zusammengerechnet um 14,3 Prozent zu. Es liegt heute 6,4 Prozent über dem Niveau des Vor-Corona-Jahres 2019. Im Durchschnitt der Eurozone sind es nur 1,3 Prozent. Auch für 2023 erwartet die Regierung ein überdurchschnittliches Plus von 2,3 Prozent. Das starke Wachstum bringt hohe Steuereinnahmen und hilft dem Athener Finanzminister Christos Staikouras bei der Konsolidierung des Haushalts. 2022 erwirtschaftete er statt eines erwarteten Defizits im Haushalt einen kleinen Überschuss von 0,1 Prozent.

In den ersten vier Monaten 2023 lagen die Steuereinnahmen 13,5 Prozent über dem Plan. Die Arbeitslosenquote ist immer noch die zweithöchste der EU, aber sie ging in der vierjährigen Regierungszeit der Konservativen dank 390.000 neu geschaffener Arbeitsplätze von 19 auf 11 Prozent zurück. Auch im Kampf gegen die Inflation meldet die Regierung Fortschritte. Die Teuerung fiel nach Berechnungen der Statistikbehörde Elstat im April auf drei Prozent.

Aber die ökonomische Erfolgsbilanz wird durch einen Skandal getrübt. Vergangenes Jahr brachte eine Abhöraffäre den Premier in Erklärungsnot. Es stellte sich heraus, dass der Geheimdienst Dutzende Unternehmer, Journalisten und Politiker abgehört hatte, darunter Nikos Androulakis, den heutigen Chef der zweitgrößten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen Pasok. Mitsotakis, der sich den Geheimdienst gleich nach seiner Wahl 2019 selbst unterstellt und dessen Spitze mit einem Mann seines Vertrauens besetzt hatte, will davon nichts gewusst haben. Aber zwei Drittel der Bürger nehmen ihm das einer Umfrage zufolge nicht ab. 

Ende Februar offenbarte zudem ein schweres Zugunglück mit 57 Toten skandalöse Versäumnisse, Sicherheitsmängel und Vetternwirtschaft bei dem staatlichen Bahn-Netzbetreiber OSE. In den Augen vieler Griechinnen und Griechen war es bereits der zweite Fall von Staatsversagen, nachdem die Katastrophenschutzbehörden im Sommer 2021 riesige Waldbrände tagelang nicht unter Kontrolle bringen konnten.

Für Tsipras die „schlechteste Regierung“ seit 1974

Tsipras spricht von „der schlechtesten Regierung“ Griechenlands seit der Rückkehr zur Demokratie 1974 nach der Diktatur der Obristen. Er hofft auf eine zweite Chance und erinnert die Wählerinnen und Wähler daran, dass er in seiner ersten Amtszeit fast keinen politischen Gestaltungsspielraum hatte. Damals steckte das Land im Korsett der internationalen Geldgeber, deren Vorgaben die Regierung folgen musste. Diesmal werde Syriza sein eigenes Programm umsetzen, kündigt Tsipras an.

Das würde für die griechische Wirtschaft schwere Einschnitte bedeuten. Die National Bank of Greece, eines der vier systemischen Geldinstitute, will Tsipras verstaatlichen. Auch der größte Elektrizitätsversorger DEI, der Energiekonzern Helleniq Energy und die Wasserwerke sollen unter staatliche Kontrolle kommen. Ob die privaten Aktionäre entschädigt oder enteignet werden sollen, geht aus dem Syriza-Programm nicht hervor. 

Tsipras will die Mehrwertsteuer für Lebensmittel auf sechs Prozent reduzieren und für Grundnahrungsmittel ganz abschaffen. Er verspricht höhere Renten, einen Inflationsausgleich im öffentlichen Dienst sowie höhere Grundfreibeträge in der Einkommensteuer. Zur Gegenfinanzierung will Tsipras die, wie er sagt, „Übergewinne“ der Unternehmen abschöpfen und höhere Einkommen stärker besteuern.

Deutlich hinter der Konservativen

Die Aussichten, dass Tsipras seine Pläne umsetzen kann, sind allerdings gering. In jüngsten Umfragen liegt Syriza mit rund 25 Prozent deutlich hinter der konservativen ND, die auf etwa 32 Prozent kommt. Tsipras könnte zwar versuchen, gemeinsam mit der sozialdemokratischen Pasok eine Minderheitsregierung zu bilden, die sich auf die Duldung weiterer linker Splitterparteien stützt, wie der MeRA25 seines Ex-Finanzministers Varoufakis. Bisher signalisieren ihm die potenziellen Partner aber keine Bereitschaft dafür.

Umfragen zufolge ist allerdings auch Mitsotakis von seinem Wahlziel, der absoluten Mehrheit, mit der er seit 2019 regiert, weit entfernt. Denn gewählt wird nach einem neuen Verhältniswahlrecht, das die Syriza-Regierung 2016 verabschiedete. Weil Wahlrechtsänderungen laut griechischer Verfassung erst für die jeweils übernächste Wahl gelten, kam es 2019 noch nicht zur Anwendung. Nun braucht eine Partei für eine absolute Mehrheit der 300 Parlamentsmandate mindestens 48 Prozent der Stimmen. Rechnerisch könnte es zwar für eine Koalition der Konservativen mit der sozialdemokratischen Pasok reichen, aber das Verhältnis zwischen Mitsotakis und Pasok-Chef Androulakis ist wegen der Abhöraffäre völlig zerrüttet.

Geht aus der Wahl am Sonntag keine Mehrheit für die Bildung einer Regierung hervor, wovon die meisten Beobachter ausgehen, müssten die Griechinnen und Griechen im Sommer erneut wählen. Entschieden würde dann nach einem Wahlrecht, das die stärkste Partei bei der Sitzverteilung je nach Stimmenanteil mit einem Bonus von 20 bis 50 der 300 Mandate belohnt. Für eine absolute Mehrheit reichen nach diesem System schon 37 bis 38 Prozent. Mitsotakis traut es sich zu, in einem zweiten Durchgang diese Hürde zu nehmen. Als wahrscheinlicher Termin für die Wiederholungswahl gilt der 2. Juli.

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