Griechenland | Griechische Nationaloper: Wie dies Kasperle in entlegene Dörfer kam

„Hört auf, Karagiozis wechselt noch die Hose – für euch!“ Vergeblich versucht die Lehrerin, ein Gerangel der Kinder zu verhindern, die es kaum erwarten können. Schon verkeilen sich Schirme, neonfarbene Regencapes purzeln übereinander, während die düstere Wolkenfront am Himmel endlich ein Stückchen Blau freigibt. Nach den heftigen Schauern in der Nacht, die halb Kozani unter Wasser setzten, drängen sich an diesem Morgen um kurz vor neun Uhr etwa 300 Kinder zwischen sechs und acht auf dem schmalen Weg zwischen der kleinen orthodoxen Kirche am Hang und dem kommunalen Theater fünfzig Meter weiter bergab. Eine schrille Prozession, die statt Weihwasser Pfützenschlamm verspritzt.

Karagiozis! Den schwarzäugigen Schattenspiel-Kasper, der in jedem seiner Streiche auch gegen die Obrigkeit kämpft, kennt in Griechenland noch immer jedes Kind. Weniger bekannt ist, dass er einst als Karagöz mit den türkischen Besatzern ins Land kam, sich aber seit zwei Jahrhunderten als griechische Kultfigur behauptet.

Der Kasper kommt zu denen, die Oper gar nicht kennen

Nun ist er in der Bearbeitung von Dimitris Dimopoulos Teil eines groß angelegten Outreach-Programms, das die Griechische Nationaloper (GNO), mit Unterstützung des griechischen Kulturministeriums und einer Spende der Niarchos-Stavros-Stiftung in Höhe von 1,4 Millionen Euro, verwirklicht.

Zu 100 kostenfreien Veranstaltungen quer durch alle Sparten möchte man „insbesondere diejenigen einladen, die sonst keinen Zugang zu Oper, Musik oder Ballett haben“. Dafür reisen die Künstler der GNO quer durchs Land, sagt der Intendant Giorgos Koumendakis: „Zu den Inseln jenseits der Touristenrouten, in die Grenzgebiete, nach Thrakien, Thessalien, Mazedonien, auf den Peloponnes und auf Kreta.“ Ziel sei es, „die Menschen zu erreichen, anstatt darauf zu warten, dass sie das Theater suchen“.

Im Vorfeld betonte die griechische Kulturministerin Lina Mendoni, wie entscheidend die Rolle der Kultur sowohl für den sozialen Zusammenhalt als auch für das Wirtschaftswachstum sei. Sie scheint das ernst zu meinen. Griechenland hat einen erstaunlichen Wandel vollzogen, der die Kultur, insbesondere die darstellenden Künste, kontinuierlich stärkt. Die Zahlen sprechen für sich: So stiegen die Investitionen in die Kultur von 28 Millionen Euro im Jahr 2018 auf 35 Millionen Euro 2019. Im Jahr 2025 sind es nun 318 Millionen Euro.

In Kozani trommeln jetzt ungeduldige Kinderfäuste an die Theatertür. Einst wurde die Stadt durch den Anbau von Krokus wohlhabend. Noch immer gilt der Safran von hier als einer der besten. Doch die größte Stadt der griechischen Region Westmakedonien ist heute eine der ärmsten des Landes – mit einer Arbeitslosenquote von über 35 Prozent. Jahrzehntelang prägte der Braunkohleabbau die Region, nun ächzt sie unter dem Strukturwandel.

Die Soundanlage kommt aus Athen

Auf der Schattenbühne des kommunalen Theaters rauscht Karagiozis zur Begrüßung durch den Kamin – um mit trockenem, wenngleich rußigem Hintern auf dem Parkett zu landen. Er und seine Söhne sind bekannt für derbe Späße, auch dafür, immer hungrig zu sein.

In Kozani sei man hungrig nach Theater, sagt Christina Polychroniadou, Produktionsmitarbeiterin der GNO Alternative Stage, die während der Tour nicht nur die Inspizienz übernimmt. Es gebe hier wenig Abwechslung außerhalb der eigenen vier Wände, erklärt sie. Vor allem keine Angebote für Kinder.

Im Theater, einem funktionalen Bau aus den 1980ern, mangele es zwar nicht an Platz, dafür an allem anderen. Für Karagiozis hat man aus Athen die eigene Licht- und Soundanlage mitgebracht sowie Schattenbühne, Kostüme und Requisiten. Mehr Raum als einen kleinen Lkw dürfe das alles aber nicht beanspruchen, lacht sie – und müsse vor allem schnell aufzubauen sein.

Der Kasper wird zu Rigoletto, dem bösen Zwerg

Christinas Handy brummt. Ein Schulleiter fragt, ob es für die zweite Vorstellung um 11 Uhr noch Plätze gibt. In Kato, einem Ort in den Bergen, erzählt sie, habe der Bürgermeister mitgeholfen, Stühle aufzustellen, die Schüler seien mit Polizeiautos zum Theater gefahren worden, weil der örtliche Bus ausfiel. Das Handy brummt wieder: Für die Abendvorstellung könnten die Schuhe jetzt abgeholt werden, der Schuster um die Ecke will dafür aber kein Geld. Das Theater solle einfach wiederkommen.

Hinter dem Vorhang schiebt sich Karagiozis’ überlanger Arm zwischen Hütte und Sultanspalast. Als sich seine markante Knollennase abzeichnet, kreischen die Kinder im Publikum. Er will ein Theater auf die Beine stellen, wofür er sein Häuschen kurzerhand auf das Dach des Palastes verfrachtet. Schlagfertig (hier muss die große Kunst des Schattenspielers Alexandros Melissinos erwähnt werden, wofür wir nicht mal Griechisch verstehen müssen) klärt er auf, warum es sich lohne, in die Oper zu gehen. Da würde zwar keine Lyra gespielt wie traditionell bei seinen Auftritten, dafür könne man Hunderttausende Lire verdienen, und endlich käme sein Buckel richtig zur Geltung: Karagiozis, der Charakterdarsteller, wird zu Rigoletto, dem bösen Zwerg.

Die Solisten täten ihm als einsame Straßensänger zwar leid, aber der Chor verbreite gute Laune. Überhaupt, schwer könne das ja nicht sein, das Singen, wo es doch so viele gäbe, die sich daran versuchten: gesagt, gekrächzt.

Taschenoper und Schattenbühne, der Funke springt über

Schon beim ersten Versuch bleibt Karagiozis die Stimme weg – zur Schadenfreude der Kinder. Doch als sich in sein brüchiges Raunen der kraftvolle Bariton von Giannis Selitsaniotis mischt, wird es still im Saal. Und noch stiller, als plötzlich Marilena Striftombola mit großem Mut und großer Zartheit das Wehklagen der Gilda anstimmt und ihr schmaler Schatten den Palast des Sultans überragt. „Das ist Griechisch, aber irgendwie anders“, flüstert ein Mädchen.

Ein Moment, der den Zauber des Musiktheaters erfasst. Ein poetischer Spagat zwischen Taschenoper und Schattenbühne, der nicht nur den humorvollen Übergang von Volkston zu klassischer Liedkunst vermittelt, sondern auch die verblüffende Ähnlichkeit zwischen stereotyper Kasperl- und Operngeste. Ein Erlebnis, das seine Schatten in die Zukunft werfen könnte – der Funke im Saal ist jedenfalls übergesprungen.

Der Weg nach Giannitsa, eine Kleinstadt etwa 100 Kilometer nordöstlich von Kozani, führt durch das Vermio-Gebirge, in dessen dicht bewaldeten Hängen sich die schönsten Klöster verbergen – und inzwischen immer mehr Skilifte. Wir überqueren den Aliakmonas, den längsten Fluss des Landes, vorbei an alten Dörfern, deren Namen vergessen wurden, und Obstbäumen, die jetzt kahl sind. Im Frühjahr blühen dort Pfirsiche, Kirschen und Mandeln.

Humorvolle Parabel über Bodypositivity

Als wir uns verspätet in die letzte Zuschauerreihe schleichen, steckt eine Ente mit blauen Federn ihren Kopf in die Wolken und beklagt, mit Watschelfüßen keine Primaballerina werden zu können. Isadora Duck verquickt die Geschichte der ersten Barfußtänzerin Isadora Duncan mit dem Märchen vom Hässlichen Entlein und Tschaikowskis Schwanensee. Eine Musical-Performance aus klassischem Ballett und Streetart-Dance, die zu einer feinfühligen Parabel über Inklusion und Bodypositivity wird und zum Glück immer wieder humorvolle Brüche setzt, sobald die virtuos choreografierten Szenen drohen, in zu viel Harmonie zu erstarren. Da klopft dann der Tanzlehrer als schwarzer Schwan und böse Barock-Parodie dazwischen oder der Wolf und beste Freund der Ente legt eine wilde Breakdance-Nummer ein – wofür er vom Publikum johlend gefeiert wird.

Was wir hier suchen, hier gäbe es doch

nichts, fragt die Verkäuferin im Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite, als wir nach der Vorstellung Orangen kaufen. Zwei getigerte Katzen fläzen wie lässige Sphinxen am Eingang.

Nur zweihundert Meter weiter steht ein Mahnmal, das an das schlimmste Massaker des Ortes erinnert, verübt am 14. September 1944 unter dem Kommando des deutschen Feldwebels Fritz Schubert. Als Racheaktion für die Entführung eines deutschen Soldaten wurden 110 Menschen brutal erschlagen. Darunter der Bürgermeister und eine Frau, die als Übersetzerin für die deutsche Garnison gearbeitet hatte.

Von Mythen getränkte Erde

Die Reise endet – nach einem Zwischenstopp in Athen – in Kalamata im Süden der Peleponnes. Neben Oliven ist die Stadt auch für ihr Tanzfestival berühmt. Seit 1995 lockt es jeden Sommer nicht nur international renommierte Ensembles an, sondern auch immer mehr Fachpublikum.

Auch hier hat es geregnet, die Wolken hängen tief über dem Dach des Kalamata Dance Megaron, der einzigen Tanzhalle dieser Größenordnung in Griechenland. Man freue sich, durch die Kooperation mit der Griechischen Nationaloper das Haus auch außerhalb der Saison öffnen zu können, erklärt die künstlerische Leiterin Tzeni Argyriou, vor den Kostümen zu Aristophanes’ Vögel stehend, der Eröffnungsproduktion vor dreißig Jahren, die gerade zum Jubiläumsjahr ausgestellt werden.

Die angeborene Skepsis der Vögel gegenüber den Mächtigen, sie scheint sich in die Bewegung des Tänzers Vangelis Bikos geschlichen zu haben, der in seinem Solo, choreografiert von Konstantinos Rigos, einen Phönix mit vielen Gesichtern entstehen lässt. Beeindruckend legt Bikos die Gesten von Selbstermächtigung und Verzweiflung bloß. Eine Studie über die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des einzelnen Körpers, ebenso wie über seine ungeheure Kraft im Aufschwung.

Der Fluch des Dionysos

Die Erde der griechischen Landschaft ist mit Mythen getränkt, die die Kultur in ganz Europa geprägt und verändert haben. Auch unser Verständnis von Theater wurde in Athen, am Fuß der Akropolis, geboren. Dionysos hat den Fluch und die Illusion des Goldes vorgeführt, aber vor allem gezeigt, wie man ausgelassen feiert. Feste, in denen Musik, Tanz, Ekstase und Katharsis ineinanderflossen. Das Spiel mit Form und Entgrenzung, kultureller Aneignung und Umdeutung, Komödie und Tragödie – all das begann hier.

Und so bringt diese Reise in die griechische Provinz nicht nur Theater in all seiner Vielfalt in die entlegensten Winkel, sondern fragt nach Wurzeln, Verbindungen und nach neuem Zusammenhalt – und rührt an Narben, die längst nicht verheilt sind.

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