Graffiti: Alles so schön bunt hier

Eine alte Frau mit Kopftuch und grimmiger Miene schaut durch ein Fenster nach draußen, auf den fleckigen Putz unter ihr hat jemand „Aufbruch!“ gesprüht. Ein Foto aus dem Hamburg der frühen Achtziger – es findet sich in Eine Stadt wird bunt, einem opulenten Bildband, der die Geschichte der Graffiti-Bewegung der Achtziger- und Neunzigerjahre dokumentiert und der nun zur Grundlage einer Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte wird. Nackte Brandwände, auf denen der Ruß ein schwarzes Muster hinterlassen hat, angelaufene Brückenunterführungen, vermooste Backsteinmauern, öde Häuserschluchten: wie grau die Stadt der frühen Achtzigerjahre war! Einzig die linke Szene schrieb mit zornig und eilig aufgesprühten Parolen gegen die Einöde an: „Wir gehen nicht in eure Betonghettos!“, „Keine Sanierung!“ oder „Wer Kohl wählt, wählt den KRIEG“.

Die Graffiti-Kultur erreichte Deutschland erst spät – vor allem durch einen Film, den die „Das kleine Fernsehspiel“-Redaktion des ZDF kofinanziert hatte. Wild Style lief jahrelang in deutschen Programmkinos. Die Dokumentation über die Hip-Hop-Kultur in der South Bronx – und andere Filme aus dieser Zeit – inspirierte Tausende von Kids, mit Sprühdosen loszuziehen und ihre Tags, Pieces und Characters über die Stadt zu verteilen.

Die Ausstellung über die ersten Jahre der Hip-Hop-Graffiti-Bewegung in Hamburg wird kuratiert von vier ehemaligen Writern. Sie waren selbst auf Hamburgs Straßen unterwegs, waren Teil der Jungswelt der Sprayer und konnten für die Ausstellung aus über 400.000 Fotos und Dokumenten auswählen. „Als wir unsere Recherche begannen, wussten wir nicht, in welchem Maße Sprüher bzw. ehemalige Sprüher uns Zugang zu ihren privaten Archiven gewähren würden“, schreiben sie. „Wir wussten nicht einmal, in welchem Umfang diese Archive überhaupt noch existieren.“ Die frühe Hip-Hop-Ästhetik mit ihren bauchigen, verschachtelten Buchstaben und den comichaften Figuren wirkt heute ein wenig oldschool – eine vergangene Mode. Doch Eine Stadt wird bunt zeigt auch beeindruckend auf, wie massiv die Hip-Hop-Bewegung war und wie es einer Jugendbewegung gelang, bewaffnet mit Autolack-Sprühdosen aus dem Baumarkt, die Städte für immer zu verändern.

Bis heute gilt – und nicht nur für Hamburg: Es gibt kaum eine Wand ohne Graffiti. Vor allem die überambitionierten Großsiedlungen der Sechziger und Siebziger werden zum Spielplatz dieser Bewegung – in Steilshoop etwa übermalten Graffiti-Gangs wie die Ghetto Kidz die in brutalistischer Beton-Ästhetik gebaute Gesamtschule mit einem Wirrwarr aus Tags und Pieces. Die Botschaften waren simpel: Es ging darum, sich in die Stadt mit seinem Kürzel einzutragen. Enro, Kream, Serta, Who, Daim, Lor, Ent, Sera, Vola, Hot, Drow, Veto, Most, Doe, Bird, Reno, Siko, Erol … jedes der Pieces steht für den Drang, möglichst oft und sichtbar den eigenen Namen zu hinterlassen. „Aufstand der Zeichen“ hatte der französische Philosoph Baudrillard die Graffiti-Praxis schon in den Siebzigern genannt – eine Rebellion, die nicht gegen Kapitalismus, Ausbeutung oder Staatsmacht aufbegehrt, sondern die „urbane Ordnung der Zeichen“ aufmischt. Um sich in die Städte einzuschreiben, riskierten die Writer Geldbußen, Jugendstrafen und manchmal, wenn sie als S-Bahn-Surfer beim Fahren die Waggons von außen beschrieben, sogar ihr Leben. „Hip-Hop ist nicht so weich, wie immer alle denken“, zitieren die Ausstellungsmacher den Sprayer Shane, der in den Neunzigern die Steilshooper Ghetto Kidz anführte. „Man musste sich prügeln, die Bullen schnappen dich, da war die Stromschiene, die dich in Lebensgefahr bringt, das S-Bahn-Surfen.“

Schmiererei, Rebellion oder Kunst?

1988 hatte die Hamburger Polizei eine Soko Graffiti gegründet, die verhindern sollte, dass die Jugendlichen komplette U- und S-Bahn-Züge zu fahrenden Bildern umgestalten. Eine Stadt wird bunt erzählt variantenreich von dem Katz-und-Maus-Spiel der Graffiti-Szene: Manche der Writer steigen aus, andere weichen auf ein Terrain aus, auf das die Polizei nicht so einfach gelangt. So werden Anfang der Neunziger die Kneipen Ahoi und Onkel Otto in den besetzten Hafenstraßenhäusern zum Treffpunkt einer neuen Generation von Graffiti-Künstlern. Plötzlich werden die Pieces politischer, radikaler. In dieser Zeit tauchte auch der wahrscheinlich bekannteste Hamburger Graffiti-Künstler auf: Walter Josef Fischer alias OZ war ein Einzelgänger, viel älter als der Rest der Szene, nie Teil der Hip-Hop-Community und dennoch mit seinem manischen Sprayer-Fleiß, seiner Hartnäckigkeit und seiner eigenwilligen Poetik („Es lebe der Sprühling!“) eine Inspiration – er wurde 2014 von einer S-Bahn erfasst und starb auf den Gleisen.

Aller Marktferne zum Trotz – auch diese Jugendbewegung hat eine Pionierfunktion übernommen. Sie hat den Marketingexperten und Eventmanagern – und nicht zuletzt den Verkehrsbetrieben – gezeigt, wo überall Spots sind, die vermietet werden können. Eine Stadt ist bunt ist daher auch der Blick zurück auf eine Stadt, die es heute nicht mehr gibt – die noch weitgehend unvermarktete Metropole, in der noch nicht jeder Stromkasten, jede Brandmauer, jede Unterführung, jeder Bus und jede S-Bahn zur Werbefläche geworden ist. Wer sich in den Neunzigern noch über die Schmierereien geärgert hat, denkt heute vielleicht mit sentimentalen Gefühlen zurück an die Zeit, als das Bunte in der Stadt noch aus Sprühdosen kam.

„Eine Stadt wird bunt“ Hamburg Graffiti History 1980–1999, Museum für Hamburgische Geschichte vom 2. November bis zum 31. Juli

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