Dieses Wochenende bietet die Chance, die populäre Reichenkritik einmal anders zu parieren als üblich. Mehr als 800 Millionen Euro wurden binnen kurzer Zeit weltweit von privaten Spendern und Unternehmen zum Wiederaufbau von Notre-Dame in Paris nach dem großen Brand von 2019 aufgebracht. Unter den Großspendern befinden sich der Luxuskonzern LVMH oder der Kosmetikkonzern L’Oréal mit der Familie Bettencourt und ihren Stiftungen.
Gut, dass wir solche Milliardäre haben. Sie entlasten die normal verdienenden Bürger. Ohne ihre Millionenspenden hätte der französische Staat den Wiederaufbau des Bauwerks aus Steuermitteln finanzieren oder die Staatsverschuldung um eine Milliarde Euro vergrößern müssen. Hardcore-Liberale würden sagen, es sei nicht Aufgabe von Unternehmern, einen Kirchenbau zu alimentieren, sie sollten ihr Geld lieber in gute Geschäftsideen investieren. Hardcore-Marxisten machen ein ähnliches Argument, wenn sie sagen, das Spendengeld hätten die Fabrikanten zuvor ihren Arbeitern abgepresst, um sich jetzt im Glanze ihrer Großzügigkeit einen Platz in der ersten Bankreihe bei den Eröffnungsfeierlichkeiten zu sichern. Beide Argumente sind nicht ohne; gleichwohl will ich sie hier übergehen.
Stattdessen soll diese Kolumne zu einer Verneigung werden vor den einfachen Menschen des Mittelalters (nicht nur den direkt am Bau beteiligten Arbeitern und Handwerkern), ohne die es Notre-Dame nie gegeben hätte. Einer von vielen Unterschieden zwischen heute und damals besteht darin, dass die Beschäftigten von L’Oréal und LVMH keinen oder zumindest vernachlässigbaren Lohnverzicht leisten müssen als Folge der Großspenden.
Das war im Mittelalter anders: Technologische Produktivitätsgewinne wurden der Bevölkerung vorenthalten – um ihnen Heilsgewinne und dem Klerus Prestigegewinne zu sichern. Finanziert wurden Klöster und Kirchen auch damals schon teilweise von freiwilligen Stiftern. Aber ein Großteil stammte aus dem Steueraufkommen der ländlichen Bevölkerung.
„Haben die Bischöfe die Felsbrocken herbeigeschleppt?“
Wir kommen damit auf Bertolt Brechts für unsere Zwecke leicht abgewandelte „Fragen eines lesenden Arbeiters“ zurück: „Wer baute die große Kathedrale von Paris? In den Büchern stehen die Namen von Bischöfen und Kardinälen. Haben die Bischöfe die Felsbrocken herbeigeschleppt?“ Grobschätzungen gehen davon aus, dass die in der Zeit von 1163 bis 1345 erbaute Kirche mehrere Hunderttausend Livres gekostet hat. Zum Vergleich: Ein Handwerker verdiente damals etwa zwei bis drei Livres im Jahr; ein Ritter hatte ein Jahreseinkommen von hundert Livres.
Zur Zeit des Baus von Notre-Dame gab es einen großen europaweiten Wettbewerb, welche Stadt die größte und schönste Kathedrale errichtet. Daron Acemoğlu, der Ökonomienobelpreisträger des Jahres 2024, spricht in seinem jüngsten Buch „Power and Progress“ von einem spektakulären Sakralbauboom im hohen Mittelalter: In 26 Städten wurden gleichzeitig große und prächtige Kathedralen gebaut; über 8000 neue Kirchen waren in Planung (1472 davon allein in Paris zwischen 1100 und 1250). Hinzu kommt eine explodierende Anzahl neuer Klöster. Das verschlang nicht nur Unsummen an Geld, mit dem man auch profane Bauten hätte errichten können. Man benötigte zudem Tausende Baumeister, hoch spezialisierte Handwerker und einfache Arbeiter etwa zum Transport von Steinen, die oft aus weit entfernten Steinbrüchen stammten. Acemoğlu schätzt, dass etwa 20 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der damaligen Zeit in das religiöse Baugewerbe flossen. Und damit einem möglichen andernfalls wachsenden Wohlstand der Bevölkerung vorenthalten wurden. Oder genauer: Es verhinderte, dass die Menschen ein bisschen weniger bitterarm gewesen wären, als sie es waren.
Schon damals gab es nicht nur soziale Kritik (und vereinzelt auch Revolten), sondern auch religiöse Missbilligung der Pracht. „Kritiker sagen, die Feier der heiligen Eucharistie bedürfe lediglich einer gläubigen Seele, eines reinen Geistes und einer andächtigen Haltung“, schreibt Abt Suger von Saint-Denis (bei Paris). Der Abt verwirft die Kritik nicht, er unterläuft sie stattdessen dialektisch: „Wir stimmen völlig zu, dass die Haltung der inneren Frömmigkeit das Wichtigste ist. Aber wir glauben zugleich, dass große Pracht und heilige Kelche für unseren Gottesdienst genauso wichtig sind, damit innere Reinheit und äußere Nobilität einander entsprechen.“
Eigenwert religiöser Erfahrung
Der Preis dafür ist hoch. Es ist ja nicht so, dass das Mittelalter nur dunkel und ohne kreative, die Produktivität verbessernde Erfindungen gewesen wäre. Vor allem Wassermühlen und ihre Markteinführung in großem Stil bewirkten einen großen wirtschaftlichen Schub. Doch sind Produktivitätsgewinne eben nicht automatisch auch Wohlstandsgewinne für die Menschen. Es kommt darauf an, wer die Macht hat, darüber zu befinden, wie diese Gewinne verteilt werden. Explizit bezweifelt der Ökonom Acemoğlu im Übrigen das malthusische Gesetz, wonach Produktivitätsfortschritte von höheren Geburtenraten wieder aufgefressen worden wären, so als ob die Armen selbst an ihrer stabilen Armut schuld gewesen wären.
Warum haben die Arbeiter längere Arbeitsstunden, weniger Konsum und schrumpfenden Wohlstand trotz steigender Produktivität akzeptiert? Acemoğlu ist der Meinung, das sei dem Zwang wirtschaftlicher und religiöser Macht geschuldet. Wirtschaftlich waren die kirchlichen Arbeitgeber selbst in Zeiten von Knappheit des Arbeitsangebots nicht genötigt, höhere Löhne zu zahlen – solange der Klerus die Macht hatte, die Arbeiter zu mehr Arbeitsstunden bei gleichen oder schlechteren Löhnen zu zwingen. Religiös stand jeglicher Widerstand gegen die Kirche unter der Drohung der Exkommunikation, welche mit den schrecklichsten Höllenstrafen verbunden ist. Zwang und Drohung verfehlten ihre Wirkung nicht.
Gleichwohl bin ich nicht überzeugt. Acemoğlu kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es einen positiv-intrinsischen Wert von Religion gibt. Er mag nicht glauben, dass es für Arbeiter am Bau der Kathedrale Notre-Dame auch eine Ehre sein konnte, an diesem großen Werk mitzuarbeiten. Und dass sie darauf hofften, dass ihre Gott wohlgefällige Arbeit ihnen im Himmel einmal vergolten wird. Ökonomen, die in Kategorien von Kosten und Nutzen denken, müssten für diesen theologischen Gedanken eigentlich offen sein. Wer aber wie Acemoğlu offenkundig keinen Sinn für den Eigenwert religiöser Erfahrung (auch von „einfachen“ Leuten) hat, kann die Geschichte nur als Unterdrückungsgeschichte der Armen durch den Klerus lesen.
Wir Heutigen, die wir an diesem Wochenende die Wiedereinweihung der Kathedrale erleben (meist am Bildschirm), sind denen zu Dank verpflichtet, die damals dieses wunderbare Bauwerk errichtet haben – und verneigen uns vor ihrem Glauben.