Glühwein: Das Beste an lauter schlechten Situationen

In der Reihe „Die Pflichtverteidigung“ ergreifen wir das Wort für Personen, Dinge oder Gewohnheiten, die von vielen kritisiert und abgelehnt werden. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 47/2022.

Das Beste an Glühwein
ist der letzte Atemzug vor dem ersten Schluck. Wenn es draußen richtig kalt ist
und der Glühwein richtig heiß (gibt beides immer seltener), und wenn man schon
angesetzt hat zum Trinken, dann hüllt einen dieser Atemzug für wenige Sekunden
in wunderbare Schummrigkeit. Als wäre man gegen eine plüschverkleidete Wand
gelaufen oder vom Stuhl gefallen in ein Auffangbecken voller Wattebäusche.
Hätte Don Draper in Mad Men Werbung für Glühwein gemacht, wäre die Kampagne um diesen
edlen Moment gekreist, den ebenso edle Männer bei winterlich-feierlichen
Anlässen miteinander teilen: „Glühwein – Let’s All Take a Deep Breath.“

Nun bin ich aber nicht
Don Draper, sondern nur ein kleiner Kulturarbeiter aus Brandenburg und muss in
dieser Funktion mitteilen: Alles, was beim Glühwein nach diesem letzten Atemzug
kommt, ist Schadensbegrenzung. Der Moment der geteilten Schummrigkeit ist nicht
edel, sondern Teil von Laternenumzügen und Weihnachtsmarktbesuchen, von
Wintergrillabenden und den Junggesellenabschieden irgendwelcher Idioten, die
aus steuerlichen Gründen unbedingt noch im Dezember heiraten müssen. Wäre man
als Werbetexter der Wahrheit verpflichtet, sollte es also heißen: „Glühwein – das Beste an lauter schlechten Situationen.“

Bleiben wir aus nahenden
saisonalen Gründen beim Weihnachtsmarkt. Der Weihnachtsmarkt ist Spielplatz für
überzuckerte Fünfjährige und Marktplatz für beschämende Kleinkunst. Man schiebt
sich zwischen anderen schlechtgelaunten Winterjacken herum, um Hausgemachtes
und Selbstgebasteltes zu kaufen, obwohl weder das eine noch das andere zum
Qualitätsmerkmal taugt. Kinder parkt man auf langweiligen Pferdekarussells,
füttert sie mit Zuckerwatte und Schokoäpfeln und soll die Kotze am Ende auch
noch selbst aufwischen. Wohl kaum wäre all das zu ertragen, könnte man sich
nicht von Glühweinstand zu Glühweinstand retten und die eigene Festplatte im
15-Minuten-Takt neu formatieren.

Verteidigen muss man
Glühwein trotzdem, zum Beispiel gegen den ohnehin schwierigen Menschenschlag
des Weinkenners. Für wahre Connaisseure ist Glühwein natürlich Plörre, und
daran wird auch der Trend zum sogenannten Winzerglühwein nichts ändern. Dieser
ist verpflichtet zur Einhaltung diverser Reinheitsgebote – keine
Verdünnung mit Wasser- oder Fruchtsaft, keine künstlichen Süßmacher –, man
verbrennt sich aber doch nur den kleinen Finger beim Abspreizen von der Tasse. Niemand braucht filigranen Glühwein, kein noch so kecker
Weinbaustudent aus dem Rheingau muss ihm raffiniert kommen oder das Getränk gar „neu erfinden“.

Vielleicht lehnen
Weinkenner Glühwein schon deshalb ab, weil er ihnen unliebsame Wahrheiten über
ihr Dasein vor Augen führt. Ein gut ausgebildeter Gaumen ist eben kein Ersatz
für eine gut ausgebildete Persönlichkeit. Einmal kurz im großen Topf aufkochen, ein
paar Stangen Zimt dazu – und die eigene Weltanschauung wird Glühwein. Sich dagegenzustemmen, ist nicht nur elitär, es könnte diesen Winter auch teuer
werden. Glühwein wärmt schließlich schon ab der ersten Tasse nach innen und
isoliert spätestens mit der dritten nach außen, in der Regel für weniger als
vier Euro pro Aufguss. Das sind Dämmwerte, die selbst für modernste Baustoffe
unerreichbar bleiben.

Lösen wir an Herdplatte und Henkeltasse also auch noch die Energiekrise? Glühwein statt Gasheizung: Zyniker wie Don Draper würden aus dieser Idee sofort eine Sparkampagne für die Bundesregierung bauen. Einem kleinen
Kulturarbeiter bereitet der Slogan natürlich Kopfschmerzen. Aber dagegen köchelt hier ohnehin schon die nächste Mischung vor sich hin.

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