Kann man in gut anderthalb Stunden eine Wirtschaftsbranche retten? Womöglich ist die Einsicht, dass dies kaum möglich ist, der Grund, warum die zunächst als „Stahlgipfel” angekündigte Veranstaltung im Kanzleramt inzwischen zu einem „Stahldialog” geschrumpft ist. Von 12 Uhr an wollen sich der Kanzler, mehrere Bundesminister und Ministerpräsidenten mit Vertretern der Stahlbranche austauschen; schon gegen 13.40 Uhr wollen sie vor die Presse treten.
Was sich schon vor dem Treffen abzeichnete: Den großen Befreiungsschlag wird es nicht geben, auf der Tagesordnung steht viel Bekanntes. Die rund 80.000 Mitarbeiter in der Branche blicken weiter in eine unsichere Zukunft, denn ihre Unternehmen leiden unter einer Stahlschwemme auf dem Weltmarkt, schwächelnden Abnehmerindustrien, hohen Stromkosten und dem Druck zur grünen Transformation.
Die Augen richten sich vor allem auf Brüssel. Dort wird derzeit über neue Schutzmaßnahmen für die europäische Stahlindustrie verhandelt. Die Europäische Kommission hatte Anfang Oktober vorgeschlagen, das Kontingent, das zollfrei in die EU gelangen darf, um knapp die Hälfte auf 18,3 Millionen Tonnen zu kürzen. Gleichzeitig soll der Zollsatz, der für die Mengen darüber hinaus fällig wird, auf 50 Prozent verdoppelt werden. Um Umgehungen zu verhindern, soll zudem besser rückverfolgbar werden, woher genau und über welche Wege Stahl in die EU gelangt.
Gemischte Gefühle in der Union
Die Bundesregierung unterstützt diesen Kurs grundsätzlich – die Wirtschaftspolitiker in der SPD sehr klar, die in der Union mit etwas unwohlem Gefühl, sind sie doch eigentlich überzeugte Freihändler, die Zölle immer wieder kritisiert haben. Doch angesichts der massiven Subventionen Chinas und der Krise der deutschen Industrie ist nun auch die CDU für einen gewissen Grad an Abschottung. Was nutzt die reine ordnungspolitische Lehre, wenn dadurch Zehntausende in Deutschland ihre Jobs verlieren würden?
Ähnlich wie die Bundesregierung sieht die EU-Kommission Stahl als einen strategisch wichtigen Sektor an, der für die Zukunft vieler anderer Industrien und damit für Europas wirtschaftliche Resilienz von „entscheidender Bedeutung“ sei. Rat und Parlament müssen den neuen Schutzmaßnahmen aber noch zustimmen. Sie sollen spätestens im Juni kommenden Jahres in Kraft treten, wenn die derzeit geltenden Schutzklauseln auslaufen.
Entlastungen bei den Energiekosten
Neben einer restriktiveren Handelspolitik will die Bundesregierung der Branche mit diversen Entlastungen bei den Energiekosten helfen – die allerdings schon länger angekündigt sind. Der einst von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) angestoßene und von seiner Nachfolgerin Katherina Reiche (CDU) mit der EU-Kommission weiter verhandelte subventionierte Industriestrompreis soll zum 1. Januar kommen. So sagt es zumindest Reiche. Noch hat die EU-Kommission kein grünes Licht gegeben.
Mit dem „Clean Industrial Deal State Aid Framework“, kurz „Cisaf“, hatte Brüssel in diesem Jahr einen Rahmen geschaffen, um zum Schutz der heimischen Industrie Ausnahmen vom Beihilferecht zu ermöglichen, welches hohe nationale Subventionen eigentlich verbietet. Doch auch unter dem neuen Rahmen gelten strenge Regeln. So dürfen maximal 50 Prozent des Stromverbrauchs subventioniert werden. Außerdem müssen die Unternehmen die Hälfte der erhaltenen Mittel in die Dekarbonisierung investieren.
Noch wichtiger für die Stahlhersteller ist das Instrument der Strompreiskompensation, mit dem sie die im Strompreis enthaltenen Kosten des Emissionshandels erstattet bekommen. Die Bundesregierung will sich in Brüssel dafür einsetzen, dass die Unternehmen diese Beihilfe künftig intensiver als bislang in Anspruch nehmen können. Anders als der Industriestrompreis ist die Strompreiskompensation auch nicht auf drei Jahre befristet. Unter „Cisaf“ dürfen die Unternehmen allerdings nur entweder das eine oder das andere in Anspruch nehmen. Somit dürfte ein Industriestrompreis für die Begünstigten der Strompreiskompensation kaum zusätzliche Entlastung bringen, heißt es in einem am Mittwoch veröffentlichten Papier der Denkfabriken Epico, Agora Energiewende sowie dena.
Der Druck ist immens
Wie sehr die Stahlbranche unter Druck ist, zeigt auch die Tatsache, dass der größte deutsche Spieler Thyssenkrupp Stahl im Vorfeld der Berliner Veranstaltung bestätigt hat, dass er seine Mitgliedschaft im Lobbyverband Wirtschaftsvereinigung Stahl zum Ende kommenden Jahres gekündigt hat – aus Kostengründen. Das sei „ausdrücklich“ keine Abkehr vom branchenweiten Austausch zu politischen Themen. Thyssenkrupp Steel ist Deutschlands größter Stahlhersteller mit dem Schwerpunktstandort Duisburg. Weitere wichtige Stahlregionen sind das Saarland, Salzgitter, Bremen und Eisenhüttenstadt, wo vor allem die Konkurrenten Stahl-Holding-Saar, Salzgitter und Arcelor Mittal unterwegs sind.
Während sich die Vertreter der Stahlbranche über die Aufmerksamkeit aus Berlin freuen können, blickt man in anderen Wirtschaftsverbänden weniger erfreut auf die diversen Krisengipfel im Regierungsviertel. „Wir brauchen Entlastungen für die Breite der Wirtschaft”, sagte Helena Melnikov, Hauptgeschäftsführerin der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), am Donnerstag, als sie neue Konjunkturumfrage des Verbands vorstellte. Diese zeichnet ein düsteres Bild der Lage der deutschen Wirtschaft. Nur 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum erwartet die DIHK für das kommende Jahr. Die Bundesregierung geht bislang von 1,3 Prozent aus.
„Die Unternehmen sind heute pessimistischer, als sie es im Mai waren“, sagte Melnikov. Im Mai nahm die schwarz-rote Koalition ihre Arbeit auf. Vor allem die vertagte Senkung der Stromsteuer sorge für Frust. „Das hallt noch nach.“
Und dann sei da noch das leidige Thema Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Statt dessen Abschaffung gebe nur Änderungen, „wo wir am Ende den Unternehmen erklären dürfen, warum die Abschaffung von Berichtspflichten, aber die Beibehaltung von Dokumentationspflichten eine Entlastung ist“. Das sei nicht zu vermitteln, sagte Melnikov.
Bis zu 50 Milliarden Euro an Wertschöpfung
Was für die Stahlbranche genau auf dem Spiel steht, ist gar nicht so leicht zu beziffern. Volkswirte der Universität Mannheim haben in einer Studie, gefördert von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, ausgerechnet, dass eine Verlagerung der Stahlproduktion ins Ausland im Krisenfall bis zu 50 Milliarden Euro kosten könnte.
„Wir sind von einem Extremszenario ausgegangen“, sagt der Ko-Autor der Analyse Patrick Kaczmarczyk. Dieses Szenario nimmt ähnliche Lieferstopps an, wie sie derzeit bei Chips oder Seltenen Erden bestehen. „An der Stahlindustrie hängen über Zulieferer und Abnehmer große Industriezweige“, sagt Kaczmarczyk. Metallverarbeitung, Automobilbranche, Maschinenbau und andere müssten im Fall des „Stahlschocks“ erheblich mehr bezahlen.
Auch dem arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) zufolge steht einiges auf dem Spiel. IW-Forscher Tillman Hönig kommt in einer Hochrechnung darauf, dass einschließlich der Zuliefer- und Abnehmerindustrien 605.000 Arbeitsplätze hierzulande am Stahl hängen. Die Politik dürfe „den Stahlstandort Deutschland nicht erodieren lassen“, sagt er. Deutscher Stahl habe es wegen hoher Energiepreise und strengerer Klimaschutzvorgaben schwerer als außereuropäischer. Aus Resilienzgründen sei es zudem wichtig, die Fähigkeit im Land zu halten, Stahl für die Rüstungsindustrie zu fertigen.
Wo liegen wirklich die komparativen Vorteile?
Anders sieht das Johannes Binder, der sich am Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IfW) mit der Industriepolitik beschäftigt. „Beim Thema Stahl ist die Debatte sehr diffus“, sagt er. „Geht es nun um den Erhalt der Arbeitsplätze, um militärische Resilienz oder um die Sicherung von Lieferketten?“ Allein wegen der Arbeitsplätze lohne es womöglich nicht, die Branche mit teuren Subventionen zu schützen – da könne es günstiger sein, die Jobverluste mit Sozialmaßnahmen abzufedern.
Ein Abreißen der Lieferkette hält er im Stahlbereich für wenig realistisch, da es sehr viele Länder gebe, die Stahl günstig anböten. „Die Gefahr, dass wir erpressbar würden, sehe ich kaum“, sagt Binder. Eher fürchtet er bei der Verhängung von Zöllen um die nachgelagerten, metallverarbeitenden Industrien wie die Autobranche oder den Maschinenbau. Für sie würde der Grundstoff dann teurer.
Auch auf den Industriestrompreis blickt er kritisch: Diese Subvention löse die strukturellen Probleme nicht. „Man muss sich fragen, können wir langfristig das Land sein, das mit billiger Energie Stahl produziert oder sehen wir unsere komparativen Vorteile eher woanders?“