Die erste Entscheidung des Tages fällen deutsche Arbeitnehmer morgens auf der Bettkante: Gehe ich heute zur Arbeit? In aller Regel stellen sie sich diese Frage nicht bewusst, schließlich braucht es schon einen guten Grund, dem Job fernzubleiben. Manchmal aber, wenn der Kopf oder Rücken beim Aufwachen schon schmerzt, wenn die Nase läuft oder der Rachen etwas angeschwollen ist, dann gilt es abzuwägen: Kann ich mit diesen Beschwerden zur Arbeit? Verschwinden sie vielleicht, wenn ich erst einmal aufgestanden bin und einen Kaffee getrunken habe?
Vieles deutet darauf hin, dass die Deutschen diese Fragen heute anders beantworten als vor ein paar Jahren. Während 2018 noch jeder Zweite mit einer leichten Erkrankung zur Arbeit ging, war dazu im Jahr 2022 (bei negativem Corona-Test) nur noch jeder Dritte bereit. Dies geht aus einer Umfrage der Krankenkasse Pronova BKK hervor. Auch bei Rückenschmerzen und Allergien zeigen die Deutschen die Tendenz, heute eher daheimzubleiben als noch vor einigen Jahren.
Diese Entwicklung macht sich in der Krankenstatistik bemerkbar. Im ersten Quartal dieses Jahres lag der Krankenstand bei 6,89 Prozent und übertraf damit die beiden Vorjahresquartale, die ohnehin schon hohe Werte aufwiesen. Durchschnittlich 15,1 Tage waren Arbeitnehmer laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im vergangenen Jahr krankgeschrieben, die gesetzlichen Krankenkassen vermeldeten teils sogar über 20 Krankheitstage.
Für diesen Trend gibt es viele Gründe. Nach Corona gingen auch in diesem Winter noch große Infektwellen durchs Land. Mancher leidet immer noch unter Long Covid. Dazu kommt ein statistischer Effekt: Seit Anfang 2023 müssen Ärzte ihre Krankschreibungen elektronisch an die Krankenkassen übermitteln. Damit kommen die Krankschreibungen zuverlässiger in der Statistik an als früher, in den Zeiten, in denen die Arbeitnehmer dafür selbst verantwortlich waren und das öfter mal vergaßen.
Und weil Deutschlands Arbeitnehmerschaft immer älter wird, steigt die Zahl der Fehltage sowieso schon seit Jahren allmählich an. „Seit Corona gibt es allerdings eine deutliche Abweichung in der Dynamik dieses Trends“, sagt Ökonom Claus Michelsen vom Verband forschender Arzneimittelhersteller. In der Tat ist der Sprung zum Vor-Corona-Jahr 2019, als die Bundesagentur für Arbeit durchschnittlich 10,9 Fehltage ermittelte, bemerkenswert.
Zwar sind auch in anderen Ländern die Fehlzeiten während der Pandemie hochgegangen, erklärt Michelsen. „Fast überall sind sie danach allerdings wieder deutlich gefallen – anders als in Deutschland, wo sie sogar noch gestiegen sind.“ In einer Studie hat er Anfang des Jahres gezeigt, dass die hohen Krankenstände Deutschland rechnerisch in die Rezession gedrückt haben. Ohne die überdurchschnittlichen Arbeitsausfälle, die zu Produktionseinbußen geführt haben, wäre die deutsche Wirtschaft um 0,5 Prozent gewachsen statt um 0,3 Prozent geschrumpft, heißt es darin. Würde der Krankenstand der letzten beiden Jahre zur neuen Normalität werden, stünde rechnerisch die Arbeitskraft von rund 350.000 Beschäftigten weniger zur Verfügung.
Sorge um die Gesundheit der anderen
Für die Betriebe, die schon jetzt immense Schwierigkeiten haben, offene Stellen zu besetzen, ist das ein alarmierendes Szenario. So viel allerdings scheint festzustehen: Zum alten Niveau wird Deutschland nicht zurückkehren. Die Corona-Pandemie scheint den Umgang der Deutschen mit Erkrankungen deutlich verändert zu haben, und das offenbar permanent. Die hierzulande besonders hitzig geführten Diskussionen um Aerosole, offene Fenster in Klassenräumen und Masken am Konferenztisch haben ihre Spuren hinterlassen. „Den Satz ‚Ich möchte meine Kolleginnen und Kollegen nicht anstecken‘, den höre ich heute deutlich häufiger als früher“, sagt Sandra Blumenthal, die als Hausärztin in Berlin tätig ist.
Nun mag es auch im Interesse der Unternehmen sein, dass Mitarbeiter nicht Kollegen anstecken, die dann wiederum selbst ausfallen. Bisher allerdings steht der Beweis dafür aus, dass die neuen Krankheitstage mehr Arbeitsausfälle verhindern. Unterm Strich steigen die Fehltage. Das Homeoffice spielt da eine zweischneidige Rolle: Einerseits kann man mit leichtem Schnupfen auch mal zu Hause arbeiten, um die anderen nicht anzustecken. Das würde die Krankheitstage senken. Andererseits fällt es manchem auch leichter, sich krankzumelden, wenn sowieso ein Homeoffice-Tag anstünde.
In den Betrieben werden die Lücken in den Schichtplänen jedenfalls zur Herausforderung – und wenn die Zeiten schwierig sind, dann lassen sich auch solche Schwierigkeiten nicht ignorieren. „Lange war das kein großes Thema, aber angesichts des Kostendrucks rückt es jetzt in den Fokus“, sagt Ökonom Nicolas Ziebarth vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Die Krux: „Wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist, sind Fehlzeiten niedrig und umgekehrt.“ So könne der Fachkräftemangel durchaus zu den hohen Fehlzeiten beitragen, weil die Arbeitsplatzsicherheit höher ist.
„Der Frust ist groß“
Das Thema mit der Belegschaft zu besprechen ist für die Unternehmen heikel. Schnell kann der Eindruck entstehen, die Chefs misstrauten den Mitarbeitern, oder die Beschäftigten müssten sich für ihre Erkrankung rechtfertigen. Öffentlich moniert erst recht niemand die Fehlzeiten im eigenen Betrieb, auch, weil die Schlussfolgerung auf schlechte Arbeitsbedingungen naheliegt.
In einem Hintergrundgespräch mit Journalisten allerdings schimpft der Chef eines großen Industriekonzerns dann doch über den „weltweit höchsten Krankenstand“ hierzulande, den er auch schon mit Politik und Gewerkschaften diskutiert habe. Dabei tue man doch schon alles Mögliche für die Gesundheit der Beschäftigten, investiere etwa in die Ergonomie am Arbeitsplatz. Er lobt Schweden, wo die Lohnfortzahlung erst am zweiten Tag der Krankheit beginnt und auch dann nur 80 Prozent des Lohns beträgt. Eine „Economic Penalty“ wie diese, so der wütende Manager, sei das Einzige, was wirklich helfe.
Offener sind die Arbeitgeberverbände. „Der Frust ist groß“, sagt Sven Nobereit, der beim allgemeinen Arbeitgeberverband Thüringen für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zuständig ist. Die Unternehmer störten nicht nur die finanziellen Konsequenzen der Fehlzeiten. „Es belastet das Betriebsklima. Unter Kolleginnen und Kollegen führt das zu Unmut, weil sie ja am Ende oft einspringen müssen.“ Über den Wertewandel in der Gesellschaft hinaus gebe es durchaus Zweifel, ob Kollegen tatsächlich immer krank seien, das werde als Problem wahrgenommen – selbst von Betriebsräten habe er das schon gehört.
Gesunkene Bereitschaft, krank zur Arbeit zu gehen
Auf Anfrage der F.A.S. zeigt sich die Arbeitnehmerseite solidarisch. „Die gestiegenen Fehlzeiten sind keineswegs Ausdruck von Faulheit oder mangelnder Leistungsbereitschaft“, sagt Dirk Neumann, der bei der IG Metall unter anderem für Gesundheitsschutz zuständig ist. Sie deuteten vielmehr auf ein „im positiven Sinne gewachsenes Bewusstsein und Selbstbewusstsein in Gesundheitsfragen“ hin. Ein deutlich größeres Problem sei der „Präsentismus“, bei dem Beschäftigte auch dann zur Arbeit gehen, wenn sie eigentlich krank sind.
So klingt auch die Ärztin Sandra Blumenthal: Es gebe es noch immer viele Menschen, die sich krank zur Arbeit schleppten. Kein Wunder, galt es doch lange als Ausdruck von Belastbarkeit und Ehrgeiz, auch hustend und schniefend zur Arbeit zu erscheinen. Und doch zeichnet sich ein Wandel ab, insbesondere in der jüngeren Generation. Nahezu jeder Zweite zwischen 25 und 29 Jahren gibt an, dass seine Bereitschaft, trotz leichter Anzeichen einer Krankheit zur Arbeit zu gehen, zuletzt gesunken ist. In der Gruppe der 50- bis 59-Jährigen sagten dies immerhin 28 Prozent von sich. So zeigt es eine bisher unveröffentlichte Umfrage des Personalentwicklungsunternehmens Pinktum.
Insgesamt ein Drittel der Arbeitnehmer gibt zudem an, sich schon mal trotz Arbeitsfähigkeit krankgemeldet zu haben, knapp 40 Prozent finden das in Ordnung. Die jüngeren Alterskohorten bis 39 sehen dies insgesamt deutlich gelassener als ihre älteren Kollegen. Die Liste mit den Gründen führt das Homeoffice an: Hier sei es schlicht einfacher, auch mal einen Tag krankzumachen, sagt jeder Zweite. Vier von zehn Befragten geben an, dass es mit Blick auf den eigenen Verdienst nur fair sei, sich gelegentlich eine Auszeit zu nehmen.
Viele sind erschöpft
Personalentwickler Joachim Pawlik, der die Studie veranlasst hat, erzählt, dass diese Entwicklung in Führungskreisen hitzig diskutiert werde. „Aber zu oft wird nicht nach den wahren Ursachen gesucht.“ So hat mehr als die Hälfte der Befragten geäußert, regelmäßig Auszeiten vom Job zu benötigen, da ihnen sonst die Kraft fehle, ihr Leben zu bewältigen. Sicherlich gebe es auch Mitarbeiter, die sich krankmelden, obwohl sie noch arbeitsfähig wären. „Aber man muss den Leuten auch einen Grund geben, sich zusammenzureißen.“
Das Verhältnis zwischen vielen Beschäftigten und ihren Führungskräften habe zuletzt stark gelitten, sagt Pawlik. „In guten Zeiten bindet man seine Mitarbeiter viel mehr ein, in Krisenzeiten neigen Führungskräfte dazu, durchzugreifen und durchzuregieren. Und wir erleben seit vier Jahren eine Krise.“ Fehlende Wertschätzung und Unzufriedenheit würden erheblich dazu beitragen, dass Leute häufiger mal daheimbleiben.
Während Pawlik an Führungskräfte appelliert, das Gespräch mit ihren Mitarbeitern zu suchen, wählen manche Betriebe drastische Maßnahmen – und engagieren eine Detektei. „Die Anfragen wegen Lohnfortzahlungsbetrug haben sehr stark zugenommen“, sagt Privatermittler Marcus Lentz. „Ich habe Kunden vom kleinen Handwerksbetrieb bis zum Dax-Konzern.“
Bei psychischen Erkrankungen sei es schwierig, zu beweisen, dass jemand eigentlich arbeitsfähig wäre. „Aber wenn jemand wegen Rückenschmerzen krankgeschrieben ist und dann die eigene Einfahrt pflastert, geht das natürlich nicht“, so Lentz. Der Einsatz von Detektiven ist unter bestimmten Umständen erlaubt, selbst die Kosten können dem Arbeitnehmer in Rechnung gestellt werden, wenn sich der Verdacht bewahrheitet.
In Gesprächen betonen Unternehmer wie Arbeitnehmervertreter, dass es nicht das Gleiche sei, ob jemand aus Rücksicht auf die eigene Gesundheit die Schwelle zur Krankmeldung niedrig ansetzt oder ob sich jemand schlicht seiner Arbeit verweigert. Nur auf die Frage, wo die Grenze verläuft, scheint niemand so recht eine Antwort zu wissen.