Wenn es nach der finnischen Regierung geht, dann hat das Land im europäischen Norden ein Geschenk für die Welt – und nein, es ist nicht die Sauna oder ein skurriler Musik-Act mit Ambitionen beim Eurovision Song Contest. Es ist ein unscheinbares Wörtchen mit drei Buchstaben: hän. Das Finland Promotion Board, eine vom Ministerpräsidenten eingesetzte Agentur für das Image im Ausland, traut der Silbe Großes zu: Hän, so heißt es auf einer stilvoll in Blau-Weiß designten Website, stehe für Chancengleichheit. Es sei nichts weniger als „ein Symbol für eine bessere Welt, in der Menschen nicht durch Hintergrund, Gender oder äußere Erscheinung definiert werden“.
Tatsächlich hat Finnland etwas, um das in anderen Ländern gerade erbittert gestritten wird: eine Sprache ohne grammatikalisches Geschlecht, einen linguistischen Ausweg aus der ständigen Einteilung. Im Finnischen, für die meisten Menschen außerhalb der Staatsgrenzen eine unentwirrbare Ansammlung aus harten Konsonanten und Doppel-Äs, sind Substantive weder männlich noch weiblich noch sächlich. Es gibt keine Artikel und keine geschlechtsspezifische Beugung von Adjektiven. Anreden wie Herr oder Frau sind unüblich, in der offiziellen Kommunikation wird in den allermeisten Fällen einfach der Vor- und Nachname benutzt. Hän ist das passende Pronomen dazu. Es gibt nur dieses eine, und es meint alle. Man kann einen 1.000-seitigen Roman über hän schreiben, ohne dass man verraten müsste, ob die Hauptfigur ein Mann, eine Frau, eine nicht binäre Person oder sogar ein Tier ist. Jede Leserin, jeder Leser oder jede Leser:in (hier wird es im Deutschen schon wieder kompliziert bis ideologisch verräterisch) kann zu einem eigenen Schluss kommen. Auf Finnisch hieße jeder schmökernde Mensch jeglichen Geschlechts einfach lukija.
Auch wenn man zufällig einer Bekannten mit einem neugeborenen Baby über den Weg läuft, muss es nicht gleich darum gehen, „was es denn ist“. Man kann fragen, ob hän gut schläft oder schon Zähnchen bekommt. Das Geschlecht wird nur Thema, wenn man es explizit anspricht. Nach persönlicher Erfahrung fällt es finnischen Gesprächspartnern schwer, sich in anderen Sprachen von dieser Denkweise zu lösen. Im Englischen verwechseln sie auffällig häufig he und she, was erfrischend verwirrend sein kann. Auch Sprach-Lern-Apps finden mitunter keinen stringenten Umgang mit dem Wörtchen hän und melden manchmal Fehler, wo keine sind.
Finnisch ist nicht die einzige Sprache, die so funktioniert. Auch das Türkische hat beispielsweise nur ein Pronomen – wobei sich die Türkei unter der derzeitigen Regentschaft von Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht gerade durch progressive Genderpolitik hervortut. Finnland rühmt sich jedoch gern einer besonderen Sensibilität für die Gleichberechtigung, die auch historisch bedingt ist. 1906 war es weltweit das erste Land, in dem Frauen nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden durften. 2023 lag der nordische Staat auf Platz drei des Global Gender Gap Reports des Weltwirtschaftsforums, nur Island und Norwegen schnitten bei der Geschlechtergerechtigkeit in den Kategorien Ökonomie, Bildung, Gesundheit und politischem Empowerment besser ab. 2019 wurde die finnische Sozialdemokratin Sanna Marin mit 34 Jahren zur jüngsten Ministerpräsidentin der Welt gewählt. 12 der 19 Mitglieder ihres Kabinetts waren weiblich – was man aber in finnischen Artikeln über die Regierungsarbeit gar nicht jedes Mal wieder vorgeführt bekommen musste. Die Vorsitzenden eines Ressorts heißen genderunabhängig ministeri.
Der Feuerwehrmann erhitzt die Gemüter
Im deutschen Sprachraum hantieren Befürworterinnen und Befürworter des Genderns gern mit dem Argument, dass Sprache unsere Vorstellung prägt. Wer „die Ärzte“ hört, denkt an Männer, obwohl all die Frauen, die inzwischen in diesem lebensrettenden Beruf arbeiten, mitgemeint sein sollen. Wer ein Sternchen, ein Binnen-I oder einen Doppelpunkt benutzt, so zumindest die These, bewahrt Frauen und queere Menschen vor dem rhetorischen Verschwinden. Auch ein nicht binäres Pronomen steht im Forderungskatalog vieler Aktivisten: Die bisherigen Vorschläge xier, en oder das aus dem Englischen übernommene they fristen jedoch eher ein Nischendasein.
Schaut man nach Finnland, drängt sich also die Gegenfrage auf: Macht eine Sprache, die bereits viele dieser inklusiven Kriterien erfüllt, eine Gesellschaft gerechter? Und ist hän tatsächlich jenes Geschenk an die Welt, das das Finland Promotion Board verspricht?
Die Linguistin Laura Hekanaho forscht an der Universität Helsinki zum Thema Sprache, Identität und Gender und sieht das ein bisschen anders. „Ich finde diese Aussage aus mehreren Gründen problematisch“, sagt sie. „Finnisch ist zufällig eine Sprache, die keine geschlechtsspezifischen Pronomen hat, aber keine Person oder Gruppe von Menschen hat das Finnische auf diese Weise gestaltet, um Gleichheit herzustellen. Nur weil eine Sprache keine geschlechtsspezifischen Pronomen hat, bedeutet das nicht, dass diese völlig neutral ist oder dass die Gesellschaft, in der die Sprache gesprochen wird, eine der Chancengleichheit wäre.“
Nimmt man als Vergleichsgrößen das Deutsche oder romanische Sprachen wie Französisch und Italienisch, ist der Anteil der gegenderten Worte im Finnischen minimal. Doch es gibt sie, und sie sorgen auch im hohen Norden für erhitzte Gemüter. Da sind einmal Begriffe wie Mutter (äiti), Sohn (veli) oder Freundin (tyttöystävä), die mit einem bestimmten Geschlecht innerhalb einer binären Ordnung verbunden sind. Auch einige Berufsbezeichnungen sind lexikalisch männlich, obwohl das oft nicht der realen Situation entspricht. Wenn es brennt, kommt der palomies (Feuerwehrmann), Vorgesetzte heißen meist generisch männlich esimies, und die Leitung von finnischen Parlamentssitzungen hat der puhemies (Sprecher) inne, auch wenn dieser Posten schon mehrmals von Frauen besetzt wurde. Wenn also Macht und Tatendrang im Spiel sind, wird der Mann beschworen, wenn es um möglichst verführerischen Service im kurzen Uniformrock geht, greift das nächste Stereotyp: Stewardessen sind als lentoemäntä (wörtlich etwa Flugwirtin) eindeutig weiblich gekennzeichnet.
Wenn es nach der finnischen Regierung geht, dann hat das Land im europäischen Norden ein Geschenk für die Welt – und nein, es ist nicht die Sauna oder ein skurriler Musik-Act mit Ambitionen beim Eurovision Song Contest. Es ist ein unscheinbares Wörtchen mit drei Buchstaben: hän. Das Finland Promotion Board, eine vom Ministerpräsidenten eingesetzte Agentur für das Image im Ausland, traut der Silbe Großes zu: Hän, so heißt es auf einer stilvoll in Blau-Weiß designten Website, stehe für Chancengleichheit. Es sei nichts weniger als „ein Symbol für eine bessere Welt, in der Menschen nicht durch Hintergrund, Gender oder äußere Erscheinung definiert werden“.