Macht ist vergänglich. Kurz nach der Jahrtausendwende waren die amerikanischen Streitkräfte vorbereitet, im Notfall zwei Kriege in unterschiedlichen Weltregionen gleichzeitig zu führen. Damals befanden sich die Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Heute könnten, wie die erfahrenen Politikberaterinnen Julianne Smith und Lindsey Ford in ihrem Beitrag „The New Eurasian Order“ in der Fachzeitschrift „Foreign Affairs“ schreiben, die amerikanischen Streitkräfte im Falle eines Angriffs der Volksrepublik China auf ein von Washington unterstütztes Taiwan schon nach acht Tagen unter Munitionsmangel leiden.
Das Wissen um diese Beschränkungen mag die geopolitischen Ambitionen zügeln. Gegenwärtig setzt Washington mit Venezuela ein korruptes Marionettenregime in einem verarmten Land sowie das von nicht einmal 60.000 Menschen bewohnte Grönland unter Druck. Was als strategisch weise Rückkehr zur Monroe-Doktrin vermarktet wird, könnte als Ergebnis einer Erosion von Macht begriffen werden, die Donald Trump mit aggressiver Rhetorik und einem in der Karibik kreuzenden Flugzeugträger übertünchen will.
Moskaus Hilfe beschränkt sich auf Worte
Wladimir Putin präsentiert in öffentlichen Auftritten ein kraftstrotzendes Russland. Allerdings beschränkt sich die Hilfe Moskaus für die bedrängten Freunde in Venezuela bisher auf Worte. Als im vergangenen Juni Israel im Krieg gegen Iran stand und amerikanische Streitkräfte Bomben auf Standorte des Atomprogramms warfen, blieb eine die Lage verändernde Unterstützung Teherans durch das befreundete Moskau aus.
Im vergangenen Jahr verlor Russland mit dem Fall des Assad-Regimes die Kontrolle über Syrien, den seit Jahrzehnten wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten. In einem vor seiner Haustür gelegenen Konflikt zeigte sich Russland unfähig, seinen Verbündeten Armenien gegen Aggressionen des mit der Türkei verbündeten Aserbaidschan zu schützen. Das jüngste Friedensabkommen prägten die Amerikaner.
Zwar erzielte Russland im Krieg gegen die Ukraine im ersten Jahr bedeutende Geländegewinne. Seitdem hat Moskau nach Berechnungen der französischen Publikation „Le Grand Continent“ – Tote, Verwundete und Vermisste addiert – rund ein Prozent seiner erwachsenen Bevölkerung opfern müssen, um lediglich weitere 1,5 Prozent ukrainischen Territoriums zu erobern. Ohne chinesische Unterstützung könnte Moskau diesen Krieg wohl längst nicht mehr führen.
Entscheidend ist meist die Wirtschaftskraft
Den Ausgang von Rivalitäten großer Mächte entscheidet, wie der britische Historiker Paul Kennedy in seinem Bestseller „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ zeigte, meist die Wirtschaftskraft. Neu ist: Lebten früher einzelne Staaten über ihre Verhältnisse, so haben heute nahezu alle Großmächte ihre wirtschaftlichen Ressourcen überdehnt.
„Das kräftige Wachstum der Bevölkerungen, die Durchbrüche in der Industrie und die territorialen Eroberungen, die einst die Großmächte beflügelt haben, sind weitgehend vorbei. China, das letzte große aufstrebende Land, hat bereits seinen Höhepunkt erreicht, das Wachstum seiner Wirtschaft verlangsamt sich, seine Bevölkerung schrumpft. Japan, Russland und Europa stagnieren seit mehr als einem Jahrzehnt. Indien hat junge Menschen, aber es fehlt ihm an Humankapital und an der Fähigkeit des Staates, um diese in Stärke zu verwandeln“, schreibt der Politikwissenschaftler Michael Beckley in einem Aufsatz („The Stagnant Order“) ebenfalls in „Foreign Affairs“.
„Die Vereinigten Staaten haben mit eigenen Problemen zu kämpfen – Verschuldung, schleppendes Wachstum, politische Dysfunktionalität –, aber sie sind immer noch ihren Konkurrenten voraus, die immer tiefer im Niedergang versinken. Der rasante Aufstieg, der einst die moderne Geopolitik geprägt hat, ist einer Sklerose gewichen: Die Welt ist heute ein geschlossener Club alternder etablierter großer Mächte, umgeben von Mittelmächten, Entwicklungsländern und gescheiterten Staaten.“
Was Überdehnung ausmacht
Wirtschaftliche Überdehnung westlicher Mächte zeigt sich an einer Unfähigkeit, ein kräftiges Wachstum der Staatsverschuldung zu bremsen. Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson hat mit Blick auf die Geschichte ein Gesetz formuliert: Als Frühindikator für geopolitische Schwäche benennt er eine Finanzpolitik, in der mehr Geld für die Bedienung von Schulden ausgegeben wird als für Verteidigung.
„Dies liegt daran, dass die Schuldenlast knappe Ressourcen auf sich zieht, wodurch die für die nationale Sicherheit verfügbaren Mittel reduziert werden und die Macht zunehmend anfällig für militärische Herausforderungen wird“, schreibt Ferguson.
In den Vereinigten Staaten übertrafen die Ausgaben für den Schuldendienst jene für Verteidigung erstmals seit langer Zeit wieder im Jahr 2024. Auch in Frankreich und Großbritannien setzt die Finanzpolitik nach dem Gesetz falsche Prioritäten, während Deutschland wegen seiner im Vergleich solideren Haushaltspolitik in der Vergangenheit noch über Spielräume verfügt. Die in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Preise für Edelmetalle und Kryptoanlagen stehen für wachsende Sorgen von Kapitalanlegern, dass die Schuldenpolitik vieler Staaten zu hoher Inflation führen wird.
Auch Peking stößt an Grenzen
In autokratischen Staaten lässt sich Überdehnung weniger klar an Staatsverschuldung erkennen. Eine überdurchschnittlich hohe Inflation, ein dauerhaft sehr hoher Anteil der Militärausgaben am Staatshaushalt, ein schwaches Wirtschaftswachstum, Goldverkäufe seit dem Beginn des Ukrainekriegs sowie deutlich niedrigere Einnahmen aus Rohstoffverkäufen sprechen im Verein mit der Alterung der Bevölkerung für eine Überdehnung der russischen Ressourcen.
Die These einer Überdehnung der chinesischen Ressourcen scheint angesichts der Stärke der Industrie und des Drucks, den ihre Exporte auf andere Länder ausüben, unplausibel. Viele Ausfuhren dürften jedoch kaum rentabel oder sogar unrentabel sein, was für Überkapazitäten spricht.
Die Achillesferse der chinesischen Wirtschaft bilden die schwache Binnenkonjunktur, gegen deren Belebung der Rückgang der Bevölkerung spricht, sowie die erheblichen Überkapazitäten im Wohnungsbau. Das Volumen der Kredite an Schwellen- und Entwicklungsländer, mit denen China wirtschaftlichen und politischen Einfluss in der Welt anstrebte, ist rückläufig. Auch Peking stößt an Grenzen.
Populisten profitieren
Seit der Industriellen Revolution bedingte die wirtschaftliche Überdehnung einer geopolitisch expansiven Macht keinen endgültigen Niedergang, weil Bevölkerungswachstum und technischer Fortschritt in der Industrie eine wirtschaftliche Revitalisierung gestatteten. Dies zeigt der Wiederaufstieg Deutschlands nach zwei verlorenen Weltkriegen.
In der modernen Welt schrumpfen in vielen Ländern die Bevölkerungen, und noch ist unklar, ob die digitale Revolution für ein kontinuierlich kräftiges Produktivitätswachstum sorgt, das den Rückgang der arbeitenden Menschen in der Wirtschaft kompensieren kann. Ein Niedergang in der heutigen Zeit ist möglicherweise für Jahrzehnte irreversibel.
Beckleys „stagnierende Ordnung“ vom Niedergang bedrohter Mächte verheißt weder inneren noch äußeren Frieden. Den Regierungen fällt es schwer, ein glaubwürdiges Fortschrittsversprechen anzubieten. Stattdessen verwalten sie durch Partikularinteressen und Verteilungskämpfe gelähmte Staaten.
Von der Unzufriedenheit vieler Menschen profitieren in Demokratien die Populisten. In Autokratien könnten Herrscher versucht sein, mit einer aggressiven, an imperialen Glanz appellierenden Außenpolitik die Bevölkerung zu binden. Autokraten mögen als „strongmen“ posieren und ihr Gift über soziale Medien in Demokratien träufeln. Ihr Schicksal hängt von ihrer Akzeptanz zu Hause ab.
Russland bleibt gefährlich
Deshalb bleibt gerade ein im Niedergang befindliches Russland gefährlich. Die Bedrohung für Europa besteht weniger in Panzerarmeen alten Stils, sondern in weniger teuren, aber potentiell wirksamen Aktionen wie verstärkten Drohnen- und Cyberangriffen, einer Militäraktion gegen das schwer zu verteidigende Baltikum oder einer Sabotage transatlantischer Versorgungswege durch U-Boote. Mit aggressiver Rhetorik, dreisten Provokationen, fortgesetzten Nadelstichen und unverblümten Verweisen auf eigene Nuklearwaffen sollen die als Schwächlinge eingeschätzten Europäer weichgekocht werden.
Beschränkungen des Handlungsspielraums großer Mächte ergeben sich jedoch durch Faktoren wie die Demographie und die Verteilung der Bevölkerung, des Reichtums und der Rohstoffe. Der eurasische Doppelkontinent bleibt die größte Landmasse auf dem Planeten. Auf keinem anderen Kontinent leben annähernd so viele Menschen, auf keinen anderen Kontinent entfällt ein größerer Anteil der Wirtschaftsleistung, auf keinem anderen Kontinent befindet sich eine ähnlich große Zahl von Soldaten und Waffen, und kein anderer Kontinent beherbergt ähnlich viele Rohstoffe.
Kontrolle der Randgebiete
Seit den Arbeiten des britischen Geographen Halford Mackinder vor mehr als 100 Jahren gilt die lange Zeit von Washington und noch heute selbst von Vordenkern der MAGA-Bewegung akzeptierte Einsicht, dass sich mit der Kontrolle Eurasiens die führende Machtposition in der Welt verbindet. Seit den Arbeiten des amerikanisch-niederländischen Geostrategen Nicholas Spykman vor rund 90 Jahren wird die Kontrolle Eurasiens mit der Kontrolle seiner Randgebiete, darunter Europas, gleichgesetzt. Heute ist oft zu hören, die Voraussetzungen für Geopolitik hätten sich geändert. Ihre geographischen und wirtschaftlichen Fundamente sind jedoch gleich geblieben.
Verändert hat sich die Perspektive einer populistischen Administration in Washington, die sich der Überdehnung der nationalen Macht sehr bewusst ist. Wenn die aktuelle Sicherheitsstrategie Russland und China nicht als Rivalen nennt, mag die Antwort nicht nur in einer von Kritikern vermuteten Komplizenschaft bestehen, sondern auch in der nüchternen Erkenntnis, dass die Vereinigten Staaten allein gegen ein Bündnis von Peking und Moskau nicht viel ausrichten können. In der ersten Amtszeit Trumps stand noch der Satz: „China und Russland wollen eine Welt gestalten, die den Werten und Interessen der USA entgegensteht.“ Die Feststellung war ein Echo der „Grand Strategy“ nach 1945, die mit demokratischen Partnern die eurasischen Randgebiete gegen autokratische Bedrohungen verteidigte.
Trump sieht die Europäer als Rivalen
Heute gelten statt China und Russland die seit Jahrzehnten verbündeten Europäer als Rivalen. „Diese intellektuelle Verwirrung geht mit einer Täuschung einher: dem Glauben, dass Wirtschaftsbeziehungen und nicht eine robuste, auf Wettbewerb zielende Politik den Frieden sichern können“, kritisiert der Politikwissenschaftler Hal Brands. „Es handelt sich um eine alte, diskreditierte Idee, die Trump selbst einst sinnvollerweise verworfen hatte.“
Andererseits sprechen die Bedeutung der guten Beziehungen zum Nahen Osten, daneben die Waffenverkäufe in mehrere eurasische Randregionen sowie die Ankündigung des Baus neuer Kriegsschiffe gegen einen amerikanischen Abschied von Eurasien. Angesichts der weltwirtschaftlichen Verflechtungen erschiene die Zuflucht in einer neuen Monroe-Doktrin ohnehin wie eine Selbstschädigung.
Eine nüchterne, nicht auf Rachsucht und transaktionale Beutesuche ausgerichtete Politik sähe den Wert jener Allianzen, die Trump verachtet, ohne sie aufzugeben. „Die Vereinigten Staaten allein können die Annäherung zwischen China und Russland nicht bewältigen. Aber Washington kann auch keine Konflikte in Eurasien ignorieren, die daraus entstehen“, schreiben Smith und Ford. „Die amerikanischen Verbündeten verändern ihre Beziehungen rasch, ob Washington dies nun willkommen heißt oder nicht. Diese Netzwerke können den Interessen der USA entweder dienen oder sie untergraben, je nachdem, wie Washington mit ihnen umgeht. Wenn es den Vereinigten Staaten nicht gelingt, ihre Beziehungen zu ihren Partnern in Asien und Europa neu zu gestalten, laufen sie Gefahr, am Rande einer sich rasch wandelnden Weltordnung zurückzubleiben.“