Weitere Schrecken blieben nicht aus. Das schon in der Pandemie erkennbare Inflationspotential verstärkte sich nach dem Ausbruch des russischen Kriegs gegen die Ukraine noch einmal. Erstmals seit rund einem halben Jahrhundert sahen sich die Zentralbanken mit einem unerwartet kräftigen Anstieg der Inflationsraten konfrontiert, zu dem Störungen des gesamtwirtschaftlichen Angebots ebenso beitrugen wie eine kräftige gesamtwirtschaftliche Nachfrage.
In der Rückschau reagierten die Zentralbanken in Schwellenländern am raschesten auf die Herausforderung, aber einmal in Gang gekommen, stiegen die Leitzinsen auch in den Industrienationen sehr kräftig. So erhöhte die Europäische Zentralbank (EZB) innerhalb von vierzehn Monaten zehnmal ihre Leitzinsen.
Von der „heilen Welt“ der Geldpolitik ist wenig übrig
Heute sieht sich die Geldpolitik mit der Frage konfrontiert, in welchem Maße der spürbare Rückgang der Inflationsraten Leitzinssenkungen gestattet, da die jüngsten Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf längere Sicht wieder einen nennenswerten neuerlichen Inflationsdruck begünstigen könnten. Von der, im Nachhinein gelegentlich idealisiert, „heilen Welt“ der Geldpolitik im Vierteljahrhundert vor dem Ausbruch der großen Finanzkrise ist wenig übrig geblieben.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat vergangenes Jahr in diesem Zusammenhang den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard zitiert: „Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden; aber es muss vorwärts gelebt werden.“ Mit anderen Worten: Es hilft nicht, nur auf die Zeiten vor den Krisen zurückzublicken.
Geldpolitiker und Ökonomen diskutieren engagiert über geldpolitische Strategien und Instrumente wie auch grundlegender über Rolle und Selbstverständnis von Zentralbanken. Die Finanzkrise hatte das alte Paradigma erschüttert, das von Regierungen unabhängige Zentralbanken mit deren Fokussierung auf das Ziel der Preisstabilität begründete. Eine moderne Auffassung, vertreten durch den Ökonomen Markus Brunnermeier, betrachtet angesichts der stark gewachsenen Rolle der Finanzmärkte die drei Prinzipien Preisstabilität, Finanzstabilität und Tragfähigkeit der Staatsverschuldung als miteinander verbunden.
In dieser Vorstellung befindet sich die Zentralbank in der Gefahr der Überforderung, wenn sie zu allen drei Zielen gleichzeitig beitragen will. Brunnermeier empfiehlt den Zentralbanken, Gefahren für die Preisstabilität konsequent zu bekämpfen und ansonsten nicht in jeder Krise aktivistisch zu agieren, sondern sich auf die Bekämpfung von Großkrisen zu beschränken. Entscheidend bleibt für ihn eine Elastizität von Volkswirtschaften, die es erlaubt, nach Krisen rasch auf den alten Wachstumspfad zurückzukehren („Resilienz“).
Zentralbanken als dritte „ungewählte Macht“
Jenseits der ökonomischen Folgen einer geldpolitischen Überforderung wirft das Ausgreifen der Zentralbanken zum Beispiel in die Aufsicht über Geschäftsbanken Fragen nach ihrer demokratietheoretischen Legitimation auf, denen sich ein Buch von Paul Tucker („Unelected Power“) aus dem Jahre 2018 widmet. Für Tucker, der lange in der Bank of England gearbeitet hatte, sind die Zentralbanken zur dritten bedeutenden „ungewählten Macht“ neben dem Justizwesen und dem Militär geworden; er bezeichnet die Zentralbanken als „Inbegriff technokratischer Macht“. Die seit der Veröffentlichung seines Buches geführten Diskussionen über ein Engagement der Zentralbanken zugunsten des Klimaschutzes dürften Tuckers Bedenken noch verstärkt haben.
Die Unabhängigkeit der Zentralbanken wurde in vielen Ländern gesetzlich verbrieft. Brunnermeier hält diesen Schutz nicht für ausreichend. Denn nun bringen teils erhebliche Verluste die Zentralbanken ins Gerede. Die Verluste entstehen im Wesentlichen, weil der seit der Verschärfung der Geldpolitik für die Einlagen der Geschäftsbanken anfallende Zinsaufwand die Erträge aus den niedrigverzinslichen Anleihebeständen übertrifft. An dieser Diskrepanz dürfte sich in den nächsten Jahren nicht viel ändern.
Zentralbanken müssen nach einer verbreiteten Ansicht zwar in einem technischen Sinne keine Gewinne erzielen, um eine stabilitätsorientierte Geldpolitik zu betreiben. So arbeitete die Tschechische Nationalbank mehr als zehn Jahre ohne Eigenkapital; in den frühen Siebzigerjahren war sogar einmal die Deutsche Bundesbank nach hohen Verlusten auf ihre Fremdwährungsbestände im technischen Sinn überschuldet, ohne ihre Geldpolitik einschränken zu müssen.
Aber dem Image der Währungshüter dient eine längere, ihr Eigenkapital aufzehrende Verlustphase nicht zwingend. „Obgleich sie auch mit negativem Eigenkapital arbeiten kann, sprechen sehr gute Gründe dafür, dass eine Zentralbank ihr eigenes Kapital haben sollte“, heißt es in einer Arbeit von Jamie Long und Paul Fisher („Central bank profit distribution and recapitalisation“).
Brunnermeier stimmt zu: „Die Zentralbank muss gut mit Eigenkapital ausgestattet bleiben. Falls sie regelmäßig von der Regierung rekapitalisiert werden muss, wirkt sie schwach. Dann droht sie die öffentliche Unterstützung zu verlieren.“
Müssen Regierungen Zentralbanken rekapitalisieren?
Das wirft die Frage auf, ob eine Regierung gezwungen ist, Eigenkapital aus Steuermitteln in eine notleidende Zentralbank einzuschießen. „Letzten Endes besteht die Deckung von Zentralbanken, anders als bei Geschäftsbanken, nicht in ihrem Eigenkapital, sondern in der Stärke ihrer Eigentümer, zu denen in der Regel der Finanzminister gehört, wenn auch nicht immer alleine“, schreiben Long und Fisher. „Wenn eine Zentralbank rekapitalisiert werden muss, geschieht es durch die öffentlichen Finanzen.“ Ihre vergleichende Studie über den Umgang die Zentralbankverlusten in 70 Ländern zeigt jedoch, dass eine solche Rekapitalisierung durch Steuermittel nur in den wenigsten Ländern vorgeschrieben ist.
Zu diesen Ländern zählt das Vereinigte Königreich; nach in London kursierenden Schätzungen könnte sich die Regierung veranlasst sehen, in den kommenden Jahren bis zu 170 Milliarden Pfund in die Bank of England einzuschießen. In den meisten anderen Ländern, darunter auch in Deutschland, ist eine Rekapitalisierung einer Zentralbank, die ihr Eigenkapital verloren hat, nicht zwingend vorgeschrieben.
Andererseits hat die EZB in der Vergangenheit die Bedeutung von Eigenkapital für das öffentliche Ansehen von Zentralbanken und ihre Handlungsfähigkeit in Krisen herausgestellt. Das sind aber nur Empfehlungen: Die EZB kann nationalen Regierungen nicht vorschreiben, in ihrem Besitz befindliche nationale Zentralbanken wie die Bundesbank zu rekapitalisieren.
Mit Blick auf ihre Unabhängigkeit von Regierungen droht manchen Zentralbanken Gefahr auch vom Anstieg der Staatsverschuldung. Die Kosten höherer Zinsen für hoch verschuldete Staatshaushalte könnten die eine oder andere Regierung veranlassen, die Unabhängigkeit der Zentralbank in Frage zu stellen.
„Die Regierungen sähen es gerne, wenn die Zentralbanken ihnen helfen, indem sie Staatsschulden monetarisieren – das heißt, indem die Zentralbanken Staatsanleihen kaufen, die keine privaten Käufer finden“, schreibt Brunnermeier. „Die Zentralbank kann ihre Unabhängigkeit aber nur bewahren, wenn sie verspricht, sich den Wünschen der Regierung nach einem Ankauf exzessiver Schulden zu versagen. Dies würde die Regierung zu einer sogenannten fiskalischen Konsolidierung durch Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen oder Beides zwingen.“
Die Flexibilität des Handelns bewahren
Politischem Druck muss die Zentralbank standhalten können, will sie ihre Kernaufgabe erfüllen. „Am allerwichtigsten ist es, dass die Verpflichtung der Zentralbank, für Preisstabilität zu sorgen, nicht unterminiert wird“, heißt es in einem aktuellen E-Book von Bill English, Kristin Forbes und Angel Ubide („Monetary Policy Responses to the Post-Pandemic Inflation“). Dieses Buch bietet eine international vergleichende Bestandsaufnahme der Geldpolitik seit dem Beginn des jüngsten Inflationsschubs.
Zu den von den Zentralbanken gelernten Lektionen gehören nach Ansicht der Autoren die Unvollkommenheit der Prognosen künftiger Inflationsraten in turbulenten Zeiten und die Erkenntnis, dass Zentralbanken im Falle eines durch Störungen des gesamtwirtschaftlichen Angebots verursachten Inflationsschubs nicht einfach tatenlos warten können, bis sich das Angebot wieder normalisiert. Ferner sollten sich die Zentralbanken eine Flexibilität des Handelns in turbulenten Zeiten bewahren.
Die Bekämpfung der Inflation brachte eine Wiederkehr der kurzfristigen Leitzinsen als wichtigstes geldpolitisches Instrument, während im vorangegangenen Jahrzehnt Anleihekaufprogramme so sehr an Bedeutung gewonnen hatten, dass sie von Fachleuten längst nicht mehr wie vor der Finanzkrise als ein „unkonventionelles“ Instrument der Geldpolitik wahrgenommen werden. Noch nicht endgültig geklärt sind jedoch die Wirkungen dieses Instruments, zumal heute nicht mehr der Aufbau von Anleihebeständen auf der Agenda steht, sondern Tempo und Ausmaß ihrer Rückführung.
Eine beachtliche Asymmetrie
Eine Analyse der Folgen des seit einiger Zeit beobachtbaren Abbaus der Anleihebestände durch sieben Zentralbanken in der Welt haben Wenxin Du, Kristin J. Forbes und Matthew Luzzetti auf dem diesjährigen „US Monetary Policy Forum“ vorgestellt. Ihr wichtigstes Ergebnis ist eine beachtliche Asymmetrie zwischen den Folgen des Aufbaus der Anleihebestände und den Folgen ihres Abbaus für die Renditen der Anleihen. Demnach sind die Renditen von Staatsanleihen als Reaktion auf den Abbau von Anleihebeständen im ersten Jahr im Durchschnitt um lediglich 0,04 bis 0,08 Prozentpunkte gestiegen, während sie im ersten Jahr nach der Ankündigung von Anleihekäufen stärker gesunken waren.
Sollten die Renditen heute nicht in jenem Maße steigen, wie sie damals gesunken waren? „Für einen Ökonomen mag dieses Ergebnis erstaunlich sein“, bemerkte Christopher Waller, ein Gouverneur der Federal Reserve, in einer Diskussion der Studie. Zur Erklärung der Asymmetrie verweist er auf unterschiedliche Marktbedingungen.
Anleihekaufprogramme werden von Zentralbanken üblicherweise in Zeiten hoher Unsicherheit angekündigt. Im Idealfall tragen sie zur Beruhigung der Märkte bei, was sich in deutlichen Rückgängen der Renditen äußern kann. Die Ankündigung der Reduzierung der Anleihebestände findet dagegen in ruhigeren Zeiten statt. Solange an den Finanzmärkten die Überzeugung herrscht, dass sich genügend private Käufer für Anleihen finden, wird die Reduzierung daher geringe Auswirkungen auf die Renditen haben. „Die asymmetrischen Effekte sind nicht erstaunlich, sondern ein Anzeichen dafür, dass ein richtiges Timing der Ankündigungen durch die Zentralbanken insgesamt zu einem Nutzen für die Gesellschaft führt“, sagte Waller.
Die mannigfaltigen Herausforderungen der vergangenen 15 Jahre haben an der zentralen Aufgabe der Geldpolitik allerdings nichts geändert. Im Gegenteil: „Unsere erste Lektion, die vielleicht wieder gelernt oder zumindest wieder betont wurde, lautet, dass die Preisstabilität erhebliche Vorzüge besitzt und die erste Priorität einer Zentralbank darstellt“, betonen Michael Kiley und Frederic S. Mishkin in einem Beitrag für die Neuauflage des „Oxford Handbook of Banking“. Glaubwürdig sei eine solche Geldpolitik vor allem dann, wenn Zentralbanken früh und konsequent auf Inflationsgefahren reagierten. Kiley und Mishkin äußern sich skeptisch gegenüber der Idee, den Zentralbanken auch eine Verantwortung für die Finanzstabilität zu übertragen, weil damit Gefahren für die Preisstabilität verbunden sein könnten.
„Inflation erzeugt Stress“
Die Erinnerung an die Preisstabilität als Kernaufgabe der Geldpolitik erscheint zeitgemäß, weil sich trotz der Achterbahnfahrt der vergangenen 15 Jahre an der Abneigung der Menschen gegenüber der Inflation nichts verändert hat. Überlegungen mancher Ökonomen, dass eine gewisse Dosis an Inflation der Wirtschaft zugute kommen könnte, stehen die Menschen auf der Straße immer noch ablehnend gegenüber.
Und mit Grund: An der Inflation stört die Menschen vor allem der Verlust an Kaufkraft, da nach ihrer Ansicht Lohnerhöhungen in der Regel nicht ausreichen, den Kaufkraftverlust zu kompensieren. Daher sehen sich vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen gezwungen, ihr Konsumverhalten anzupassen.
„Inflation erzeugt zudem Stress, emotionale Reaktionen und ein Gefühl von Ungleichheit, da die Löhne von Beziehern hoher Einkommen überdurchschnittlich zu steigen scheinen“, heißt es in einer Arbeit von Stefanie Stantcheva („Why do we dislike inflation?“), die auf der Befragung von amerikanischen Privathaushalten beruht.
Für die Inflation machten die Befragten nicht in erster Linie die Geldpolitik verantwortlich. Vielmehr sahen Anhänger der Republikanischen Partei die Inflation vor allem als Ergebnis der Politik Präsident Joe Bidens, während die Anhänger der Demokratischen Partei die Gier der Unternehmen nach hohen Gewinnen als wichtigsten Grund anführten. Eine „Gier“ wurde auch von manchen Politikern und Ökonomen als Inflationsursache behauptet. Die empirische Grundlage dieser These bleibt indessen unbefriedigend, sodass sie heute kaum noch vertreten wird.
Die Konzentration der Zentralbanken auf ihre Kernaufgabe der Geldwertsicherung als wichtigste Schlussfolgerung aus der Achterbahnfahrt der vergangenen knapp zwei Jahrzehnte lässt sich auch für die Schwellenländer gut begründen. In den vergangenen Jahrzehnten waren dort nach kräftigen Leitzinserhöhungen der Federal Reserve immer wieder schwere Währungskrisen aufgetreten. Ökonomen wie Hélène Rey und Hyun Song Shin haben einprägsam erklärt, wie eine hohe Dollar-Verschuldung von Staaten und Unternehmen in Schwellenländern in Verbindung mit einer fehlenden Glaubwürdigkeit der dortigen Geldpolitik in Zeiten steigender Dollarzinsen Kapitalflucht in die Vereinigten Staaten auslöste.
Nach den jüngsten Zinserhöhungen der Fed trat dieser Effekt nicht ein. Eine aktuelle Arbeit von Sebnem Kalemli-Özcan und Filiz D. Unsal („Global Transmission of Fed Hikes: The Role of Policy Credibility and Balance Sheets“), demonstriert, wie sehr Schwellenländer – die Türkei bildet eine Ausnahme – heute von einer größeren Glaubwürdigkeit ihrer Zentralbanken profitieren.