Im Buch der US-amerikanischen Historikerin Tara Zahra Gegen die Welt kann man einmal mehr sehen, wie eine veränderte Gegenwart den Blick auf Vergangenes verändert. Stand unlängst der Internationalismus der Zwischenkriegsjahre (Amerikanismus, Kommunistische Internationale, Kolonialimperien) auf dem Plan, so steht jetzt der Antiglobalismus von damals im Fokus. Tara Zahra gelingt eine überzeugend geschriebene Geschichte des antiglobalistischen, antiinternationalistischen Denkens und Handelns in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.
Zahra sieht drei Phasen: Die erste mündete in den Ersten Weltkrieg, in der zweiten befeuerten Hunger, Epidemien, Migrationen, Revolutionen auf beiden Seiten des Atlantiks den Antiglobalismus. Drittens, durch die politischen Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise entsteht ein neuerlicher Weltkrieg. Zahra konzentriert sich auf Mittel- und Osteuropa und die USA und entfaltet – höchst plastisch und mosaikartig – die Entwicklungen anhand unterschiedlicher Akteure, Orte und Zeiten. Das ergibt ein lebendiges, der Komplexität angemessenes Bild. Dass Deutschland hier nur marginal vorkommt, kann man verschmerzen.
Dabei ist Antiglobalismus nicht identisch mit Nationalismus, auch wenn es Allianzen gab. Vermeintlich paradox: Ein Antiglobalismus mit zugleich expansiven Visionen der Weltherrschaft. Eine im doppelten Sinne Uniformierung gegenüber der realen Vielfalt und Komplexität. Zwar sind das im Kern Reaktionen auf wirtschaftliche Problemlagen, sie zeigen aber auch kulturelle und soziale Veränderungen. Als Globalisierungsopfer empfanden sich in Folge des Ersten Weltkriegs Frauen, Migranten ebenso wie Bauern oder kleine Ladenbesitzer. Mitteleuropa nahm schon wegen der Auflösung der Donaumonarchie eine besondere Position ein. Es wurde zum „Versuchsfeld für den Wiederaufbau und die Rehabilitierung der Globalisierung“. Das scheiterte – linke Antiglobalisten sahen die Arbeiterschaft als Opfer der bisherigen Globalisierung, rechte die Nation. Bei Xenophobie und Frauenmarginalisierung lagen sie oft nicht groß auseinander. Viele der Protagonisten wechselten sogar die Seiten, wie etwa Mussolini oder Henry Ford.
„Nun leben sie in einem neuen Rumänien, westliche Autos, Starbucks und die Filialen der Citibank prägen heute das Stadtbild“, notiert Matthias Nawrat 2017 in Timişoara (Temeswar). „Aber so wie in Polen, Russland und anderen postkommunistischen Ländern, auch in Ostdeutschland, beziehen sich alle, die ich treffe, selbst wenn sie es nicht aussprechen, auf diese Zeit [der kommunistischen Epoche], sie gehört zu ihrem Leben, selbst in den Biografien der Nachgeborenen.“ Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, lebt seit 1989 in Bamberg. Als Autor von gefeierten Romanen ist er zwischen 2013 und 2022 viel unterwegs gewesen: in den Ländern des Ostens und Balkans, im „alten Europa“, in Israel und Russland. Hellwach, aufmerksam auf Details und regionale Spezifika schließt er vorsichtig auf übergreifende Zusammenhänge. Wenn das Austarieren zwischen Konkretem und Allgemeinen einen guten Schriftsteller ausmacht, wie er sinniert, weil man nur in der Mischung „etwas von der Wirklichkeit des menschlichen Lebens einfangen“ kann, dann ist er ein solcher.
Claudius Seidl, nach Spiegel und SZ seit Langem bei FAZ und FAS, schreibt höchst kenntnisreich über Film, vor allem aber über die unselbstverständlichen Alltäglichkeiten der Politik. Er blickt dabei unbefangen von links nach rechts, ist kritisch gegenüber den Medien und den Gebaren und Verlautbarungen der Politik. Besonders unnachsichtig ist er aber mit denen, die für ihre selbst verschuldete Selbstverdummung Medien und Politik verantwortlich machen. Gesammelt sind hier Lehrstücke dazu aus den Jahren 2018 bis 2023. Es geht um Söder und Schröder ebenso wie um den Kunstbetrieb und die Öffentlich-Rechtlichen, um Antisemitismus und vermeintliche Weltrettung, Innenstädte, Potsdam, Berlin und München.
Doch so wenig beliebig die Gegenstände sind, so präzise die Gedanken, so trefflich die Formulierungen dazu. Am Beispiel der Rederei von Israel als Kolonialmacht ein längerer, besonders ernsthafter Beleg dazu: „Die Ignoranz der Amerikaner ist ein amerikanisches Problem. Die Ahnungslosigkeit junger Deutscher ist ein Skandal eigenen Rechts. (…) Dann haben nicht nur die Schüler versagt, sondern auch ihre Lehrer und Eltern, die von der Gründungsgeschichte Israels schon deshalb möglichst wenig wissen wollen, weil sie so deutlich auf die Verbrechensgeschichte der deutschen verweist. Falls es zwischen Jordan und Meer jemals Indigene gab, dann waren es womöglich die Bewohner Jerichos, die kapitulierten, als Josuas Hörner die Mauern zum Einsturz brachten. Vor dreitausend Jahren.“
Und zu dem Satz „Journalismus ist halt, im Kern, die Verbreitung von Neuigkeiten, nicht von Altbekanntem“ kann man hinzufügen: Seidls Journalismus verbreitet neue (oder zu wenig bekannte) Gedanken.
Gegen die Welt. Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Tara Zahra (Übers. Michael Bischoff), Suhrkamp 2024, 445 S., 36 €
Über allem ein weiter Himmel. Nachrichten aus Europa Matthias Nawrat Rowohlt 2024, 222 S., 25 €
Anstiftung zum Bürgerkrieg. Überwiegend politisches Feuilleton Claudius Seidl Edition Tiamat 2024, 262 S., 24 €