Geflüchtete in Georgien: „In Russland sind wir Extremisten, hier sind wir Besatzer“

„In Russland sind wir Extremisten, hier sind wir Besatzer“ – Seite 1

Schikanen, Verhaftungen, Zensur: Russlands Präsident Wladimir Putin hat es in den vergangenen Monaten nahezu unmöglich gemacht, im eigenen Land Kritik am Krieg und der Regierung zu äußern. Er verstärkte damit den Druck auf all jene Russinnen und Russen, die wegen ihrer Auflehnung gegen das System willkürliche Verfolgung und Gewalt durch das Regime fürchten mussten. Schon vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine entschieden sich deshalb viele Oppositionelle, das Land zu verlassen.

Wegen seiner vorteilhaften Visapolitik entwickelte sich Georgien zu einem der wichtigsten Zielländer für Russinnen und Russen. Jedoch stoßen sie in der Kaukasusrepublik oft auch auf Ablehnung, denn seit dem Krieg im Jahr 2008 stationiert Russland Truppen in den georgischen Regionen Abchasien und Südossetien – an unzähligen Hauswänden in der Hauptstadt Tbilissi erinnern die Worte „20 Prozent unseres Landes sind okkupiert“ daran.

Russische Journalistinnen, Oppositionspolitiker und Aktivistinnen erzählen, weshalb sie sich zur Flucht aus ihrem Land gezwungen sahen, wie sie die angespannte Situation in Georgien wahrnehmen und wie sie dort versuchen, sich nützlich zu machen.

„Als ich endlich über der Grenze war, hatte ich das Gefühl, entkommen zu sein“: Alexander (37), Politiker der Oppositionspartei Jabloko

Meine Heimatstadt Jeisk liegt am Asowschen Meer, nur etwa 40 Kilometer Luftlinie von Mariupol entfernt. Nach dem Kriegsbeginn konnte ich Explosionen hören, denn einige russische Raketen erreichten ihr Ziel nicht und schlugen in den umliegenden Feldern ein.

Ich war jahrelang als Politiker aktiv und hatte deshalb einige Tausend Follower in den sozialen Medien. Dort informierte ich die Menschen über den Krieg und die Lügen unserer Regierung. Schon vier Tage nach den ersten Angriffen in der Ukraine durchsuchten Polizisten meine Wohnung. Sie nahmen sämtliche Handys und Laptops mit – auch von meiner Familie. Weil an meinem Kühlschrank Magnete hingen, die ich als Souvenir aus unterschiedlichen Ländern mitgenommen hatte, warfen sie mir zudem vor, ein Spion zu sein.

Direkt am nächsten Tag fuhr ich nach Wolgograd. Um keine Spur zu hinterlassen, nutzte ich Autos, die Freunde auf ihre Namen mieteten. Außerdem holte ich mir bei einem zwielichtigen Typen ein Handy und eine SIM-Karte, die nicht mit mir in Verbindung gebracht werden konnte. Danach bin ich über Jerewan nach Tbilissi geflogen. Als ich endlich über der Grenze war, hatte ich das Gefühl, entkommen zu sein. Seitdem habe ich vielen anderen Russen geholfen, auch hierherzukommen. Ich organisiere etwa den Transport oder gehe mit ihnen zur Bank, um ein Konto zu eröffnen. 

„Hier fühlt es sich immerhin so an, als ob die Georgier uns verstehen“: Julia (30), Journalistin

Im vergangenen Winter nahm mich ein Polizist wegen einer Kleinigkeit mit auf die Wache. Er behauptete, ich hätte die Straße an der falschen Stelle überquert, was nicht stimmte. Auf dem Weg in seine Kammer scherzte er, dass er mich foltern werde. Während seines Verhörs wurde mir klar, dass ich auf einer Liste des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB stand, weshalb, wusste er aber scheinbar selbst nicht. Da reichte es mir und ich bereitete meine Ausreise nach Georgien vor.

Als der Krieg begann, lebte ich bereits seit zwei Wochen in Tbilissi und gründete hier eine Hilfsorganisation, um ukrainische Geflüchtete zu unterstützen. Mittlerweile sind wir ein Team aus 30 freiwilligen Helfern aus Russland, der Ukraine und Georgien. Wir teilen wichtige Informationen auf unserer Website und über einen Telegram-Bot. Außerdem betreiben wir in Tbilissi eine Notunterkunft, in der gerade zwei Familien untergebracht sind.

Auch wenn es in Georgien manchmal schwer für uns Russen ist, ist es im Westen noch viel härter. Hier fühlt es sich immerhin so an, als ob die Menschen uns verstehen, weil wir die gleiche Geschichte teilen. Auch sie wissen, dass man einem Diktator nichts anhaben kann, wenn er genug Geld hat. Und Putin hat all dieses Ölgeld. Woher kommt das denn? Kommt es nicht aus Europa? Europa finanziert seine Diktatur und den Krieg. Also hört damit auf, einfache Russen dafür verantwortlich zu machen! 

„Ich denke auf Russisch, ich träume auf Russisch“

„Jeder kaufte einfach das Ticket, das es gerade gab“: Tanja (31), Chefredakteurin der St. Petersburger Onlinezeitung Bumaga (Papier)

Der 24. Februar ist mein Geburtstag – aber dieses Jahr rief mich statt der üblichen Gratulanten ein Kollege an und sagte mir, dass der Krieg angefangen hat. Im Laufe des Tages kam dann eine Mitteilung der Medienaufsichtsbehörde, wonach Journalisten sich nach der offiziellen Sichtweise richten müssten. Uns war klar, dass weitere Einschränkungen kommen würden, aber wir wollten trotzdem über den Krieg berichten, um etwas gegen die vielen Falschmeldungen zu tun.

Als die Behörden Anfang März den Betrieb von TV Doschd und Echo Moskwy verboten, war es das Signal, auf das ich insgeheim gewartet hatte. Ich nahm gerade an einem Workshop in Moskau teil. Anstatt zurück nach St. Petersburg zu fahren, kaufte ich mir irgendein Ticket und flog in die Türkei. Es war ein sehr emotionaler Moment und es herrschte schon so etwas wie Panik. Die Flughäfen waren komplett überfüllt, jeder kaufte einfach das Ticket, das es gerade gab. Meine Kollegen und ich sind deshalb bis heute über mehrere Länder verstreut. Von der Türkei aus flog ich einen Tag später weiter nach Tbilissi.

Mit Bumaga mussten wir in den vergangenen Monaten mehr herumexperimentieren, denn seit Kriegsbeginn können wir uns nicht mehr über Werbung finanzieren. Seit Kurzem berichten wir auch über Tbilissi und kooperieren mit georgischen Medien. Über die Entwicklungen in St. Petersburg schreiben wir aber weiterhin, um die Menschen dort zu unterstützen. In die Stadt zurückkehren, die ich verlassen habe, kann ich nicht – denn das St. Petersburg, das ich gekannt habe, gibt es nun nicht mehr. 

„Wenn wir könnten, würden wir in Russland leben“: Marina (29) und Alexander (34), Unterstützer von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny

Ich und mein jetziger Mann Alexander haben 2017 angefangen im Team von Nawalny zu arbeiten – zuerst als Freiwillige, später stieg ich zur stellvertretenden Koordinatorin des Ortsbüros in unserer Heimatstadt Archangelsk auf.

Wir bekamen deshalb bereits früh Probleme. Ich arbeitete als Lehrerin in einer Schule und meine Kollegen rieten mir, nicht mehr zu den Protesten zu gehen. Alexander verlor seinen Job in einem staatlichen Nationalpark.

Im Frühjahr 2021 wurde die Organisation dann verboten und wir zu Extremisten erklärt. Bereits damals fühlten wir uns nicht mehr sicher und gingen mit unserer kleinen Tochter nach Armenien. Drei Monate später kamen wir dann zurück nach Russland, weil die Situation sich beruhigt zu haben schien. Aber die Angst vor Hausdurchsuchungen oder einer Festnahme blieb und deshalb gingen wir im Januar 2022 erneut weg, dieses Mal nach Tbilissi.

In Russland sind wir Extremisten, hier in Georgien sind wir Besatzer. In den Straßen gibt es viele Graffitis gegen uns Russen, weil die Truppen bis heute in Abchasien und Südossetien stationiert sind. Wir verstehen das. Wenn wir könnten, würden wir in Russland leben. Aber ich denke nicht, dass wir dorthin zurückkehren können. 

„Es ist nicht Putins Sprache, sondern meine“: Anna (28), Künstlerin

Ich bin Anfang März nach Tbilissi gekommen. Hier spreche ich, um ehrlich zu sein, überall Russisch. Es ist nicht Putins Sprache, sondern meine: Ich denke auf Russisch, ich träume auf Russisch. Mich nervt auch dieses Gerede von einer kollektiven Schuld. Ich war immer gegen Putin und habe mich gegen ihn eingesetzt, soweit ich konnte.

Ich denke, meine Kunst hilft den Menschen dabei, dass sie die Situation besser verstehen und nachfühlen können. Eine meiner besten Arbeiten ist ein Buch über Putin. Zu jedem Buchstaben des russischen Alphabets habe ich ein Zitat von ihm rausgesucht, das zeigt, wie er wirklich denkt. Dafür habe ich drei Monate lang Interviews von ihm angesehen und gelesen. Meiner Meinung nach ist er ein totaler Psychopath. Er denkt, dass er über allen Menschen steht.

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