15 Monate Krieg, mindestens 46.000 Tote, über 100.000 Verletzte und jetzt endlich ein Ende? Wie blicken die Menschen in Gaza nach dem Abkommen zwischen Israel und der Terrororganisation in die Zukunft? ZEIT ONLINE hat mit fünf Menschen im Gazastreifen telefoniert und Sprachnachrichten ausgetauscht. Ihre Erlebnisse können nicht unabhängig überprüft werden. Ausländische Reporter lässt die israelische Armee nicht unabhängig aus Gaza berichten. Am Telefon berichten die Menschen von ihrer Hoffnung auf Frieden, dem Wunsch, Familienmitglieder wiederzusehen und der Sorge, bis Sonntag nicht zu überleben.
„Was hat meine Tochter getan, dass sie so eine Kindheit durchleben muss?“
Walaa Sherif, 28, Zahnärztin, südlicher Gazastreifen
Natürlich freue ich mich über den Waffenstillstand – sehr sogar. Aber ich wünschte, meine Mutter könnte ihn miterleben und bei mir sein. Sie wurde während des Krieges getötet. Die Zerstörung um uns herum ist so groß, es wird sehr lange dauern, Gaza wieder aufzubauen. Mein Haus wurde komplett zerstört, ich konnte nichts mitnehmen. Auch die Klinik, in der ich gearbeitet habe, liegt in Trümmern. Ich habe keinen Job und kein Einkommen mehr.
Sollte es möglich sein, plane ich ins Ausland reisen, um mich weiterzubilden. Vielleicht bekomme ich ja ein Stipendium für Zahnmedizin und kann so meiner zweieinhalbjährigen Tochter eine bessere Zukunft bieten. Was hat sie denn getan, dass sie so eine Kindheit durchleben muss? Sie ist noch zu klein, um zu verstehen, was um sie herum passiert. Aber seit die Waffenruhe angekündigt wurde, wirkt sie glücklicher. Unsere Freude strahlt auf sie ab.
„Ich hoffe, dass wir am Sonntag noch leben „
Hassan Jaber, 59 Jahre, Lokaljournalist, Flüchtlingslager Bureidsch
Meine Frau, unsere drei Kinder und ich haben die Nachrichten auf unseren Handys verfolgt. Wie jeden Abend saßen wir in unserem Haus im Flüchtlingslager Bureidsch. Seit der Krieg ausgebrochen ist, geht niemand mehr nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße. Wir haben dafür gebetet, dass ein Abkommen zustande kommt. Als wir erfahren haben, dass es tatsächlich eine Einigung gibt, waren wir zuerst unglaublich erleichtert. Aber das Dröhnen der Drohnen über unseren Köpfen hörte nicht auf – auch die Explosionen nicht.
Nun hoffe ich, dass wir am Sonntag noch leben. Dann möchte ich den Rest meiner Familie wiederfinden. Meine ältere Schwester hat ihr Haus verloren. Ich habe sie seit dem Krieg nur einmal gesehen. Ich möchte wissen, wie es ihr geht und schauen, wie ich ihr helfen kann. Dann möchte ich das Grab meines Neffen suchen. Ich weiß nicht, ob es noch steht. Er ist in Rafah gestorben. Wir haben über 60 Leute in unserer erweiterten Familie verloren.
Ich werde erst einmal viele Verwandte treffen und ihnen mein Beileid aussprechen. Ich wünsche mir sehr, dass der Waffenstillstand zu einem längeren Frieden führt. Hamas hat diesen Krieg begonnen, ohne einen Plan, und wir alle haben darunter gelitten. Sie haben deswegen stark an Popularität verloren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie den Gazastreifen wieder kontrollieren werden. Stattdessen sollte die Palästinensische Autonomiebehörde die Verantwortung übernehmen. Die ist zwar korrupt, aber immerhin haben sie uns nicht in diesen schrecklichen Krieg hineingezogen.
Ich wünsche mir, dass sowohl die palästinensischen Gefangenen als auch die israelischen Geiseln ein neues Leben beginnen. Ein Leben ohne Krieg. Die Frage ist nicht, ob wir in Zukunft miteinander leben können. Wir haben gar keine andere Wahl. Die Frage ist, wie wir miteinander leben.
„Viele Familien in Gaza wurden auseinandergerissen“
Umm Mohammed, Scheich Radwan, Nord-Gaza, 46 Jahre alt
Ich lebe im Norden, meine Kinder im Süden. Viele Familien in Gaza wurden auseinandergerissen. Zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil liegt der von der israelischen Armee kontrollierte Netzarim-Korridor. Seit über einem Jahr ertragen wir den Schmerz der Trennung. Ich bete für ihre Sicherheit und hoffe, sie bald wiedersehen zu können.
Allerdings bin ich erst mal skeptisch, was den Waffenstillstand angeht. Das, was verkündet wird, unterscheidet sich oft von dem, was wir tatsächlich erleben. Es ist wichtig, das Blutvergießen zu stoppen, den Völkermord zu beenden und dem Hunger, der Demütigung und dem Leid ein Ende zu setzen. Unser Volk hat das nicht verdient. Ich hoffe, das Abkommen wird tatsächlich eingehalten.
Wir haben unsere Kinder und unsere Häuser verloren. Wir haben hart gearbeitet, um diese Häuser zu bauen und unsere Kinder großzuziehen, nur um in einem Augenblick alles zu verlieren. Auch ich habe einen Sohn verloren. Als der Hunger am größten war, ging er raus, um Brennholz zu sammeln und es zu verkaufen. Er wollte von dem Geld Essen für seine Tochter besorgen. Er wurde nur 25 Jahre alt. Den Hamas-Leuten kann ich nicht mal mehr in die Augen sehen. Anstatt ihr Volk zu stärken und zu versorgen, haben sie es ins Elend gestürzt. Wofür? Wir sind an einem Tag ins Bett gegangen und am nächsten Morgen in der totalen Zerstörung aufgewacht.
„Ich fühle mich einfach nur leer“
Sohyb Abuelaish, 28, Handelsvertreter, Flüchtlingslager Bureidsch
Ich kann mich momentan noch gar nicht freuen – wegen all jener, die wir verloren haben, wegen unserer zerstörten Existenzen. Und weil wir uns selbst in diesem Krieg verloren haben. Ich fühle mich einfach nur leer.
Noch hat der Waffenstillstand nicht begonnen. Ich war geschockt, als ich erfahren habe, dass er erst am Sonntag starten soll. Denn wir Menschen in Gaza sind es gewohnt, dass bis dahin die Eskalation noch einmal zunimmt. Allein seit der Verkündung des Deals wurden Dutzende Menschen getötet. Deswegen mache ich mir große Sorgen und habe Angst. Gleichzeitig bin ich wütend, dass es bis zu einer Waffenruhe so lange gedauert hat.
Seit dem 7. Oktober habe ich auf diesen Moment gewartet und in den darauffolgenden Monaten gehofft, dass das Töten und der Völkermord an uns Palästinensern endlich aufhört. Meine Wut richtet sich dabei auch gegen die palästinensische Führung, die spätestens nach einem Monat Krieg mehr hätte tun müssen, um das Sterben zu beenden. Wohin es für mich als Nächstes geht, weiß ich noch nicht. Vielleicht gehe ich zurück in den Norden, um endlich wieder mit meiner Mutter und meinem Bruder vereint sein zu können. Der Ort heißt Dschabalija, ich bin dort aufgewachsen. Jetzt ist er komplett zerstört.
„Der viel größere Schmerz kommt noch – nach dem Krieg.“
Mohammad Abu Lehia, 36, Künstler aus Chan Junis
Alhamdulillah, Gott sei Dank, dachte ich, als ich von der Einigung zwischen Israel und der Hamas gehört habe. Jetzt ist es wahr geworden. Wir haben das nicht geglaubt. Uns wurde immer wieder viel versprochen. Immer wieder gab es Zeichen, aber es hat nie mit einer Einigung geklappt.
Ich bin ein 36 Jahre alter Künstler, der in Chan Junis, im Süden Gazas, geboren und aufgewachsen ist. Ich habe, wie andere Bewohner in Gaza auch, viele Familienmitglieder, Freunde, Bekannte verloren. Gestern habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Freude über den baldigen Waffenstillstand war so groß, aber auch der Schmerz und die Trauer über die Freunde und Familien, die wir verloren haben. Die Zerstörung innerhalb von Chan Junis ist heftig, so etwas habe ich noch nie gesehen. Die Häuser sind zerstört, fast alles liegt hier in Schutt und Asche. Das Ausmaß der Zerstörung kann man sich nicht vorstellen.
Wir haben permanent in Angst gelebt und einen hohen Preis gezahlt. Wir haben in Camps gelebt, mussten ständig fliehen. Was für eine furchtbare Situation! Unsere Kinder und Frauen sind vom Krieg gezeichnet. Aber wir haben nicht aufgegeben. Wir haben so viele Katastrophen hinter uns, so viele Nakbas. Das zieht sich durch unsere Geschichte als Palästinenser.
Trotzdem wollen wir Gaza wieder aufbauen. Unseren Kindern eine Zukunft bieten, die Schulen wieder aufbauen. Es kommt sehr viel Arbeit auf uns zu.
Ich stelle mir strategische Fragen: Wie bauen wir Gaza wieder auf? Wie die Infrastruktur? Wie pflanzen wir Bäume? Wo kommen die Kinder unter?
Wir stehen wieder auf. Was bleibt uns denn anderes übrig? Sonntag ist das Ziel – darauf warten wir. Das wird ein historischer Moment. Bis dahin bangen wir, denn der Beschuss geht weiter. Wir haben die Hölle auf Erden erlebt, aber ein viel größerer Schmerz kommt noch – nach dem Krieg.