Das abgeholzte Stück Wald, direkt am Ortsrand, war das Erste, was den Reichlingern aufgefallen ist. Da haben sie sich aber noch nichts dabei gedacht. Auf dem Land wird doch immer irgendwo irgendwas umgegraben, gefällt, gepflanzt. Dann haben sie den roten Holzpflock entdeckt, inmitten der inzwischen hochgewachsenen Gräser, Blumen und Brennnesseln ist er kaum zu sehen. Es hat dann aber auch nicht mehr lange gedauert, bis sich die Sache aufgelöst hat. In einer Bürgerversammlung habe man sie vor „vollendete Tatsachen gestellt“, sagt Franz Osterrieder. „Die wollen hier nach Gas bohren.“ „Hier“, Osterrieder dreht sich einmal um die eigene Achse, „da is unser Lech, unsere Trinkwasserquelle, da beginnen unsere Häuser, und da …“, Osterrieder deutet auf die Wiese direkt neben dem gerodeten Waldstück: „Da ist ein FFH-Gebiet. Wissens, was des is?“ Ein besonders schützenswertes Stück Natur sei das. „Es tut uns einfach weh.“
Ohne Zweifel, es ist schön hier in Reichling, diesem bayerischen Örtchen westlich von München, zwischen Lech und Ammersee, wo der Rentner Osterrieder auf das Land hinausblickt. Er hat Birgit Ertl mitgebracht, die bei jedem Satz, den Osterrieder sagt, heftig nickt. Sie und eine Handvoll andere Bewohner der umliegenden Dörfer haben sich zu einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen, um die angekündigte Bohrung zu verhindern.
Grüne Wiesen, bayerische Wolken, ein paar Kühe liegen schwer atmend in der Sonne, am Horizont sieht man die Alpen. Kaum vorstellbar, dass hier schon in wenigen Wochen schweres Gerät anrücken soll. Im September soll es losgehen mit den, wie es heißt, „Erkundungsbohrungen“. Während andernorts das fossile Zeitalter endet, soll es in Oberbayern erst beginnen. Reichling soll einen auf Klein-Texas machen. Bohrtürme statt Bergwiesen. Fehlt nur noch, dass sie hier die Lederhosen gegen den Cowboyhut eintauschen. Das alles wirkt so rückwärtsgewandt, dass selbst die konservative bayerische Landbevölkerung staunt.
Aber das Vorhaben wirft auch Fragen auf, die über die Region hinausgehen. Deutschland will doch 2045 klimaneutral sein, Bayern hat sogar das Ziel 2040 ausgegeben. Überall werden die Erneuerbaren gefördert, und da soll jetzt noch eine neue Gasquelle erschlossen werden? Andererseits braucht Deutschland Gas, und solches aus heimischem Boden könnte eine bessere Klimabilanz haben als solches, das von weit her rangeschafft werden muss.
Osterrieder ist einer, der sein ganzes Leben in Oberbayern verbracht hat, einer, den man nur übers Festnetztelefon erreicht und der die Kirche als Treffpunkt vorschlägt, weil er davon ausgeht, dass die „scho jeder find'“. Weil keiner in der Protestgemeinschaft bislang als Aktivist Erfahrung gesammelt hat, weiß auch keiner so richtig, wie das Erregungsbusiness funktioniert. Also lassen sie sich bereitwillig von Greenpeace unterstützen. Die Umweltaktivisten haben ein riesiges gelbes X auf besagter Wiese abgestellt. Am vergangenen Donnerstag haben ein paar Aktivisten junge Bäume auf der Bohrstelle gepflanzt, um „ein Zeichen setzen“.
Die Bürgerbewegung fürchtet Schlimmes. „Die werden Tag und Nacht bohren, 3.000 Meter in die Tiefe“, sagt Osterrieder. Das sei laut und sicher sei da auch Flutlicht. 40 Meter hoch solle der Bohrturm aufragen. Und genau wo der Bohrturm stehe, sei ihr Trinkwassereinzugsgebiet. Was da nun alles für Stoffe reinlaufen könnten, wer weiß es schon. „Und wenn der Wind aus der Richtung kommt, dann bläst es den Dreck nach Reichling.“ Zudem werde die Wiese eingezäunt, alles voll mit Containern gestellt, der Feldweg runter zur Straße verbreitert. Osterrieder und Ertl ärgert, dass sie kaum Informationen bekämen. Mühsam habe man sich das alles erschließen müssen, denn von Gas habe man ja keine Ahnung.
Suche nach Öl in den Achtzigern
Wobei, neu ist nicht, dass man unter oberbayerischem Boden einen Energieschatz vermutet. Tatsächlich wurde schon in den Achtzigerjahren genau in demselben Gebiet nach Öl gesucht. Das US-Unternehmen Mobil Oil (heute ExxonMobil) hat damals tief in den Boden gebohrt. Die Älteren im Dorf erzählen noch heute davon. Die einen meinen, über Wochen von Rauch und Gestank belästigt worden zu sein, die anderen sagen, „es sei halt ein paar Tage Gas abgefackelt worden und dann war’s gut“. Gefunden jedenfalls hat Mobil nicht das, wonach es suchte, kein Öl – dafür jede Menge Gas. Lange hat das niemanden interessiert. Es war günstiger, das Erdgas in Russland einzukaufen. Doch jetzt, Jahrzehnte später, hat ein Unternehmen offenbar ausgerechnet, dass man mittlerweile Geld verdienen kann, wenn man bayerisches Gas ans Tageslicht befördert.
Mitte 2022, also auf dem Höhepunkt der Gaskrise, hat sich das Unternehmen Genexco Gas GmbH die Rechte für Erkundungsbohrungen gesichert. Das Gebiet, wo gebohrt werden darf, erstreckt sich südwestlich von München über knapp 100 Quadratkilometer, vom Lech bis zum Ammersee. Bei einer Bohrung dürfte es also nicht bleiben. Genau an der Stelle, wo damals schon gebohrt wurde, soll es nun wieder geschehen.
In Reichling hat zuvor noch nie jemand von der Genexco Gas GmbH gehört, wie wohl auch in der restlichen Republik. Das Unternehmen hat zwar laut Impressum seinen Sitz in Mülheim an der Ruhr, doch einen Kontakt dorthin oder eine Website gibt es nicht. 80 Prozent gehört der MRH-Mineralöl-Rohstoff-Handel GmbH. Von einem von dem Unternehmen beauftragten PR-Berater erfährt man, dass die MRH GmbH ein „deutsches Familienunternehmen“ sei, das seit Jahrzehnten in der europäischen Öl- und Gasindustrie tätig sei. Die übrigen 20 Prozent werden von der Genexco GmbH mit Sitz in Berlin gehalten, die wiederum 2023 von der kanadischen MCF Energy übernommen wurde. MCF Energy ist ein Unternehmen, das es für geschmackvoll hält, sich in Broschüren mit Fotos von Gasbohrstationen inmitten schönster Natur und vor Bergkulisse zu präsentieren. Es hat zwar seinen Sitz in Vancouver, scheint aber kein einziges kanadisches Projekt, dafür vor allem Gasprojekte in Europa und nun auch in Deutschland zu haben.
Der Genexco-PR-Berater sagt, dass das Unternehmen in Reichling ab 2026 etwa 12 bis 15 Jahre lang Gas fördern will. Die erwarteten förderbaren Gasmengen können „von einigen Hundert Millionen Kubikmetern bis über 500 Millionen Kubikmetern betragen“. Wie viele Haushalte und Unternehmen genau beliefert werden können, sei derzeit jedoch „noch völlig offen“. Man gehe „optimistisch“ davon aus, dass rund 30.000 bis 40.000 Haushalte mit einem Durchschnittsverbrauch von 10.000 Kilowattstunden pro Jahr vom regionalen Erdgasvorkommen „profitieren“ können.
„Profitieren“, das hört sich gut an, dürfte hier aber wohl kaum zutreffen. Denn sicherlich wird Genexco das Gas an einen (regionalen) Gasversorger verkaufen, zu marktüblichen Preisen. Die Bürger dürfen das Gas dann dem Gasversorger abkaufen. Abgesehen von den lächerlichen 3.500 Euro Verwaltungsgebühr, die laut bayerischem Wirtschaftsministerium bislang für die Erteilung der sogenannten Aufsuchungslizenz fällig wurden, haben Bürger und Land nichts von dem Vorhaben. In Zeiten, in denen jeder Windpark so geplant wird, dass möglichst viele Kommunen finanziell profitieren, hat das schon etwas Angestaubtes.
Auf welcher Seite steht eigentlich Aiwanger?
Das stört auch den Landrat. Von seinem Landratsamt in Landsberg blickt der CSU-Politiker Thomas Eichinger direkt auf den vorbeirauschenden Lech. Wasserkraft hat den Kreis schon vor Jahrzehnten in der Stromerzeugung unabhängig von den Fossilen gemacht. Eichinger fürchtet nun, dass ihm das Gasprojekt die Energiebilanz verhagelt. „Die Gasförderung kommt zur Unzeit.“ Er habe in den vergangenen Wochen „erhebliche Sorgen um die Umwelt“ in der Bevölkerung wahrgenommen, die er selbst auch „für relativ naheliegend“ hält. Und für den Tourismus sei so ein Förderturm auch „nicht unbedingt, das, was man sich wünscht“. Eichinger hofft auf den bayerischen Wirtschaftsminister, dem er einen Brief geschrieben hat. Nur wie realistisch ist es, dass Hubert Aiwanger den Plan noch stoppen kann? Und wenn er es kann: ihn stoppen wird?
Auf welcher Seite steht eigentlich Aiwanger? Vor zwei Jahren, als das Gas knapp war, ließ er euphorisch per Pressemitteilung verbreiten: „Wir unterstützen die Suche nach Erdgasvorkommen in Bayern, um die Importabhängigkeit zu verringern.“ Das bayerische Wirtschaftsministerium habe daher zum 1. Oktober die Erlaubnis zur Erdgasexploration im Feld „Lech“ im Landkreis Landsberg am Lech erteilt. Damals hieß es auch, es gehe darum, die „Importabhängigkeit Bayerns und Deutschlands zu verringern“.
Heute positioniert sich Aiwanger nicht mehr ganz so eindeutig. Für ein Treffen stand er nicht bereit, man dürfe jedoch schriftlich Fragen einreichen, die er dann auch schriftlich beantworte. Dem heutigen Aiwanger also ist es wichtig zu betonen, dass nicht er über die Zulässigkeit einer Gasbohrung entscheide, sondern „dies wird entschieden in einem bundesrechtlich vorgegebenen Verwaltungsverfahren“. Auf die Durchführung der Bohrung bestehe ein Rechtsanspruch, wenn die Genehmigungsvoraussetzungen im Bundesberggesetz erfüllt seien. Die Aussagen von damals seien „im energiepolitischen Kontext zu sehen“, teilt das Ministerium nüchtern mit. Auch gehe es bei dem Projekt nunmehr „weniger um die Energieversorgung von ganz Deutschland, sondern um die Region“, „lokale Wertschöpfungsketten“ könnten entstehen und gestärkt werden.
In einem muffeligen Sechzigerjahrebau in der Nachbargemeinde Rott wagt man gedanklich mehr. Bürgermeister Fritz Schneider führt hier die Amtsgeschäfte. Er war 22 Jahre alt, als nach dem Öl gesucht wurde, hat die Bohrungen vom elterlichen Hof durch das Schlafzimmerfenster beobachtet. So hoch wie der Kirchturm war das Rohr, erinnert er sich, ganz oben die Gasflamme. „Gezischt hat das, wie beim Bunsenbrenner.“
Wer nun denkt, Schneider sei deshalb ein besonders engagierter Gegner der bayerischen Gasförderung, der fehlt. Gestört habe ihn das damals nicht, heute würde er aber schon nach den Folgen für die Umwelt fragen. „Aber gut, nach der Devise ‚Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andre an‘, kannst halt auch nich leben.“ Irgendwo müsse das Gas ja herkommen. Neue Zeiten erfordern eben auch neue Maßnahmen, findet er, vor zwanzig Jahren habe auch keiner gedacht, dass man mal Windräder aufstellt.
Europäisches Gas hat Vorteile
Deutschland ist noch immer Gasland, nur kommt das jetzt nicht mehr aus Russland, sondern aus Norwegen oder als Flüssiggas per Schiff aus den USA, wo es meist in dem umweltschädlichen und energieintensiven Fracking-Verfahren aus dem Boden gepresst und dann für den Transport verflüssigt werden muss.
Der Ökonom und Energieexperte Christian Bayer von der Universität Bonn sieht daher in einer europäischen Gasförderung auch Vorteile. Klimapolitisch sei zwar das Anbohren von klassischen Gasquellen problematisch, weil man einmal erschlossen auch das gesamte Gasfeld nutzen will. Aber „tendenziell verdrängt das hier geförderte Gas verflüssigtes Schiefergas aus den USA, Katar oder Australien“. Hinzu komme, dass lokal gefördertes Gas nicht verflüssigt wird, was erheblich günstiger in der Energie- und damit Klimabilanz ist. Verflüssigtes Schiefergas liege wegen des Energieverbrauchs beim Verflüssigen und den Methanverlusten bei der Förderung fast bei der Klimawirksamkeit von Steinkohle, während klassisches Gas aus der Pipeline etwa ein Drittel weniger Emissionen verursache. Und da die Stromwirtschaft noch immer auf Erdgas angewiesen sei, sei die Förderung auch wirtschaftlich sinnvoll.
Es ist also kein Zufall, dass Genexco die Lizenz, nach dem Gas zu suchen, Ende 2022 erworben hat – also auf dem Höhepunkt der Gaskrise, als die Energie knapp und teuer war. Damals sah alles danach aus, dass dies auch noch lange so bleiben wird. „Heutige Gaspreise sind höher als noch vor ein paar Jahrzehnten“, sagt das Unternehmen auf die Frage, warum es sich jetzt erst für das Gebiet interessiere. Dies begründe sich unter anderem damit, dass günstiges russisches Gas nicht mehr zur Verfügung steht.
Osterrieder und Ertl wollen das nicht gelten lassen. Man solle alles daransetzen, die Erneuerbaren voranzutreiben. Sie hoffen nun, dass möglicherweise weiter sinkende Gaspreise das Projekt nicht mehr rentabel machen oder dass den Aktionären von MCF Energy die Sache zu heiß wird, wegen der Proteste. Aber vielleicht erledigt sich die Sache nach den ersten Bohrungen auch von selbst. Vielleicht ist Bayern eben doch nicht Texas und die Gasförderung am Lech bleibt am Ende ein Mythos.
Das abgeholzte Stück Wald, direkt am Ortsrand, war das Erste, was den Reichlingern aufgefallen ist. Da haben sie sich aber noch nichts dabei gedacht. Auf dem Land wird doch immer irgendwo irgendwas umgegraben, gefällt, gepflanzt. Dann haben sie den roten Holzpflock entdeckt, inmitten der inzwischen hochgewachsenen Gräser, Blumen und Brennnesseln ist er kaum zu sehen. Es hat dann aber auch nicht mehr lange gedauert, bis sich die Sache aufgelöst hat. In einer Bürgerversammlung habe man sie vor „vollendete Tatsachen gestellt“, sagt Franz Osterrieder. „Die wollen hier nach Gas bohren.“ „Hier“, Osterrieder dreht sich einmal um die eigene Achse, „da is unser Lech, unsere Trinkwasserquelle, da beginnen unsere Häuser, und da …“, Osterrieder deutet auf die Wiese direkt neben dem gerodeten Waldstück: „Da ist ein FFH-Gebiet. Wissens, was des is?“ Ein besonders schützenswertes Stück Natur sei das. „Es tut uns einfach weh.“