Es gibt Deutsche, die glauben an den Weihnachtsmann. Und es gibt Deutsche, die glauben an billiges Gas aus Russland. Die erste Gruppe gehört im Vergleich zu den Realisten. Zur zweiten Gruppe gehört der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, der soeben wieder mal gefordert hat, nach einem Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine rasch wieder russisches Gas und Öl nach Deutschland zu importieren. Kretschmer zählt zu den Menschen, die behaupten, dass Deutschland russisches Gas wieder braucht, weil es angeblich billig gewesen ist. Und dass die Probleme der deutschen Industrie darin begründet lägen, dass Russland Deutschland nicht mehr sein billiges Gas liefere.
Das ist eine Legende, mehr noch, es ist eine Propagandalüge. Sie wird herumgereicht vom Kreml, von den russischen Auslandsmedien, natürlich von Sahra Wagenknecht und der AfD, von deutschen Wirtschaftsvertretern und leider auch von Politikern der Mitte wie Kretschmer. Und da so viele vom „billigen Gas“ plaudern und das auch sogar in manchen Zeitungen steht, wirkt es irgendwie richtig. Ist aber grundfalsch. Warum?
Russland hat Deutschland in der Vergangenheit alle möglichen Rohstoffe verkauft, aber gewiss kein Discountgas. Die langfristigen Verträge zwischen dem russischen Monopolisten Gazprom und den deutschen Energiefirmen wurden über Mengen und den Zeitraum der Lieferungen geschlossen. Die Preise für einen Kubikmeter Gas aber waren darin nicht festgeschrieben. Lange Zeit waren sie an den Ölpreis gebunden. Als sich die Gaspreise seit den 2000er-Jahren auf dem Markt bildeten, verkaufte Gazprom selbstverständlich zu diesen Marktpreisen. Wer in die Nullerjahre und Zehnerjahre zurückschaut, stellt fest: Abnehmer aus Deutschland haben für das russische Gas pro Kubikmeter deutlich mehr bezahlt als die in vielen Nachbarländern Russlands. Und so zahlten auch deutsche Verbraucher vergleichsweise oft mehr für ihr Gas als die anderer EU-Länder. Das russische Gas war also kein Wettbewerbsvorteil für die deutsche Wirtschaft.
Sigmar Gabriel billigte das Geschäft mit den Russen
Es gibt aber einen triftigen Grund, warum viele Deutsche die wärmende Erinnerung an billiges Gas vor der Pandemie pflegen. Das hat aber nichts mit Russland zu tun, sondern mit den liberalisierten Gasmärkten und der Konkurrenz in Europa in den 2010er-Jahren. Eine reiche Auswahl von Produzenten aus Russland, Norwegen, den Niederlanden, Algerien und anderen Ländern drückte die Preise nach unten. Dazu kam das immer stärker auf den europäischen Markt drängende Flüssiggas (LNG). Entsprechend musste auch Gazprom billiger an die Deutschen verkaufen.
Völlig vergessen scheint aber, dass Gazprom den Deutschen das teuerste Gas aller Zeiten verkaufte, als der Konzern sein Erdgas 2021 eigens künstlich verknappte. Damals ließ Gazprom auf Anweisung von Wladimir Putin seine großen Erdgasspeicher in Deutschland leerlaufen. Diese Kavernen hatte der russische Konzern 2015 deutschen Energiefirmen im Tausch für Ölfelder in Sibirien abgenommen. Der damalige SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hielt, kurz nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland, seine Hand schützend über den Deal. Sechs Jahre später zahlten die Deutschen bitter dafür. Gazprom leerte im Sommer 2021 die Speicher, am Gasmarkt brach Panik aus, die Preise vervielfachten sich – und Gazprom machte das Geschäft seines Lebens. Noch profitabler wurde das, als 2022 Russland die Ukraine überfiel und Putin ein totales Gasembargo gegen Deutschland und viele EU-Länder verhängte. Die Preise für Erdgas schossen auf historische Höhen. Alles schon vergessen, Herr Kretschmer?
Kretschmers Wählertäuschung
Heute, da Deutschland sein Gas vor allem aus dem verlässlichen Norwegen und in geringeren Mengen aus den Niederlanden, Belgien und als Flüssiggas aus den USA bezieht, sind die Marktpreise wieder deutlich gesunken. Warum aber spürt der Verbraucher das nur in geringerem Maß? Weil die Preise der Stadtwerke in jedem Jahr durch höhere CO₂-Abgaben und Netzentgelte steigen. Die würden übrigens auch dann weiter steigen, wenn Deutschland je wieder russisches Gas importieren würde.
Bevor Russland wieder an Deutschland liefern könnte, wären zudem hohe Hürden zu überwinden. Weil Putin im August 2022 die Gassanktionen gegen Deutschland verhängte und Gazprom seine langfristigen Lieferverträge brach, rutschte der deutsche Gashändler Uniper in die roten Zahlen. Der deshalb vom deutschen Staat übernommene Energiekonzern verklagte Gazprom deshalb auf Schadenersatz. Vor einem internationalen Schiedsgericht bekam Uniper 13 Milliarden Euro zugesprochen. Gazprom lehnt die Zahlung natürlich ab und klagt gegen Uniper vor russischen Gerichten. Heute sind alle Verträge mit Gazprom nichtig. Vor erneuten Gaslieferungen an Deutschland stünden ein langer Rechtsstreit und noch längere Vertragsverhandlungen, da jedes Vertrauen fehlt.
Wenn Michael Kretschmer die Hoffnung auf rasche russische Gaslieferungen nach einem Waffenstillstand im Donbass nährt, täuscht er vorsätzlich seine Wähler.