Die roten Schuhe sind überall. Als zentrales Motiv für DOK Leipzig begrüßen sie einen schon am Bahnhof auf großen Bannern. Man findet sie an zahlreichen Stellen der Stadt, was das schöne Gefühl vermittelt, dass das Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm fest verwurzelt ist in Leipzig. Festivalleiter Christoph Terhechte, seit 2020 im Amt, erzählt im Gespräch mit Ola Stazsel, die im kommenden Jahr seine Nachfolge antritt, dass ihm beim Anblick der Schuhe der Song Walk a Mile in My Shoes in den Sinn gekommen sei. „Versetze dich in meine Lage“ lautet die sinngemäße deutsche Übersetzung. Die Zeile eignet sich hervorragend als Motto für das, was das Dokumentarfilmemachen ausmacht.
Dabei wäre es falsch, diese Einladung zur Empathie mit Gefühligkeit gleichzusetzen. Der Hauptpreis des Festivals, die goldene Taube für den besten internationalen Dokumentarfilm, ging in diesem Jahr an Peacemaker des kroatischen Regisseurs Ivan Ramljak. Es ist ein Film, der um das hochemotionale Thema eines Attentats kreist und auf dramatische Weise neues Licht wirft auf den Beginn der Jugoslawienkriege 1991, ein veritabler True-Crime-Thriller, in dem Sentimentalität keinerlei Platz hat.
Ramljak verwendet die körnigen Videoaufnahmen von damals, zeigt Aufnahmen von Demonstrationen und Versammlungen und die noch ratlosen Fernsehinterviews unmittelbar nach dem Mord an Josip Reihl-Kir, des kroatischen Polizeichefs, der bis zuletzt versucht hatte, die Eskalation der Gewalt an der Grenze zwischen Serbien und Kroatien zu verhindern. Zusammengeschnitten mit dem heutigen Kommentar einiger ausgesuchter Gesprächspartner ist Peacemaker nicht nur Hommage an seine zentrale Figur und ihre Friedensbemühungen, sondern eine warnende Parabel dafür, wie das Aufeinandertreffen von Fehlinformationen, nationalistischen Impulsen und ein bisschen krimineller Energie zum explosiven Katalysator werden kann.
Flüchten oder Standhalten
Ein Film der ausgesprochen kühlen Beobachtung war der Gewinnertitel im Deutschen Wettbewerb: Active Vocabulary von Yulia Lokshina, die in Moskau geboren ist, seit 1999 in Deutschland lebt und an der Filmhochschule in München studiert hat. Ihr Film ist mehr Versuchsanordnung denn Dokumentation im strengen Sinne.
Eine nach Berlin geflüchtete russische Lehrerin versucht mit einer deutschen Schulklasse zu re-enacten, was ihr an der Schule einer sibirischen Kleinstadt passiert ist. Dafür, dass sie sich im Unterricht einmal gegen den Krieg in der Ukraine geäußert hatte, wurde sie von Schülern denunziert; der Beginn einer Verfolgung, vor der sie sich durch die Flucht ins Exil in Sicherheit brachte. Lokshina möchte in ihrem formal experimentierenden Film ergründen, wie Unterricht, Überwachung, Manipulation und autokratische Kontrolle zusammenwirken, geht dabei aber weniger analytisch als suggestiv vor. Wer Konkretes zum Russland-Ukraine-Konflikt erwartete, war hier eher frustriert.
Mit der Einführung der eigenen Sektion des Publikumswettbewerbs schuf Terhechte bewusst einen Gegenpol zu den „kühlen“ Arthouse-Dokfilmen, die den internationalen und den deutschen Wettbewerb oft ausmachen. Hier regieren die Porträts von inspirierenden, populären und witzigen Helden und Heldinnen aus aller Welt.
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Die Jury, die sich aus lokalen Kinoenthusiasten zusammensetzt, wählte mit Cutting Through Rocks des iranisch-amerikanischen Filmemacherduos Sara Khaki und Mohammadreza Eyni einen Prototyp dafür aus. Über mehrere Jahre haben Khaki und Eyni eine geschiedene Frau auf dem Land im Nordwesten Irans beobachtet. Sara ist die einzige Frau der Gegend, die Motorrad fährt. Als nicht mehr verheiratetes, erwachsenes Mitglied einer Großfamilie stellt sie ein Unikum dar, die sich in ihrer Kommune so viel Autorität verschafft hat, dass sie für den Gemeinderat kandidiert und mit großer Stimmenmehrheit gewählt wird.
Was als eine Art feministischer Morgenröte inmitten mächtiger patriarchaler Strukturen beginnt, verdüstert sich jedoch schon bald wieder, als Sara auf allen Seiten auf Widerstand trifft und Rückschläge hinnehmen muss. Cutting Through Rocks besticht durch seine Einblicke in eine fremde, archaisch scheinende Welt, bewegt durch sein dramatisches „Storytelling“ mit viel Auf und Ab und nimmt unbedingt für seine Heldin im Zentrum ein
Im Gespräch mit den Enkeln
Das Publikum in Leipzig ist im Durchschnitt jung, weshalb es eine besondere Farbe setzt, dass es in diesem Jahr so viel Filme gab, in denen die Regisseure und Regisseurinnen sich ihren eigenen Großeltern zuwandten. In Sedimente filmt Laura Coppens ihren Opa, dessen Augen auf rührende Weise aufleuchten, wenn er seine Enkelin anspricht. Er soll sein Leben erzählen, vom Aufwachsen im Nationalsozialismus über das Erwachsenwerden in der DDR und die Karriere als Gynäkologe. Um Offenheit bemüht, beantwortet der Opa auch die Fragen um seine Anwerbung als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi.
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Lauras Plan war eigentlich, mit ihm zusammen dessen Stasiakte anzusehen, aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Letztlich verleiht jedoch gerade das Fragmentarische ihrem Film einen Aspekt der Brüchigkeit, der völlig angemessen scheint. Sedimente ist ein großartiges Stück Dokumentararbeit: Er rekapituliert Geschichte und macht die Unmöglichkeit bewusst, „die ganze Wahrheit“ zu erfahren. Und beiläufig porträtiert er eine Opa-Enkelin-Beziehung, die belegt, dass Historisches und Persönliches sich sehr verschieden anfühlen können. „Hätte ich mich anders verhalten sollen?“, fragt der Großvater mit entwaffnender Offenheit und Verletzlichkeit seine Enkelin.
Die Großmutter, die Vincent Graf in Nonna zeigt, ist dagegen ein wahres Bollwerk des Trotzes. Von 1964 bis 1999 hat die Italienerin in Deutschland gearbeitet, dann zog sie zurück in das Haus in der Heimat, das sie und ihr Mann sich von den Verdiensten erbaut haben. Nur dass sie die Familie, wie eben den Enkel Vincent, dafür weit weg in der Ferne zurückließ. In ihrem riesigen Haus verbringt Nonna Rosa ihren Lebensabend in der Einsamkeit eines Entwurzeltseins, für das sie keinen Namen hat. Enkel Vincent schreckt vor der Widersprüchlichkeit der stachligen, oft missgelaunten Frau nicht zurück, belässt dabei eine Offenheit, die zur tieferen Reflexion über die besondere Lebenssituation dieser Generation der „Gastarbeiter“ anregt.
Ron Rothschild ist in Tel Aviv geboren und macht heute Filme in Berlin. In A Jewish Problem fragt er seine hochbetagte Großmutter, die 1934 im Alter von sieben Jahren mit den Eltern vor den Nazis nach Palästina floh, ob es ihr etwas ausmache, dass er in Deutschland lebe. Sie fände es nur schade, wenn er für immer dort bliebe, antwortet sie ihm und erzählt ihre Erinnerungen an die Schule im Deutschland der 30er Jahre. Schillers Glocke kann sie noch immer auswendig.
Ihr Aufwachsen in Palästina war hart; sie ist nicht auf alles stolz, was sie als junge Frau im Kampf um die Errichtung des Staates Israel getan hat. Ihr Enkel filmt den propalästinensischen Protest in Neukölln und das Vorgehen der Berliner Polizei dagegen. Sein Film ist eine Dokumentation des Unwohlseins und der Ungewissheiten – und der tiefen traumatischen Spuren, die die Geschichte über Generationen hinweg hinterlässt.
Für Koexistenz muss man erstmal die Existenz anerkennen
Einen interessanten Gegenakzent dazu setzte die kanadisch-libanesische Regisseurin Amber Fares mit Coexistence, My Ass, der im Publikumswettbewerb gezeigt wurde. Ihr Porträt der israelischen Stand-up Comedienne Noam Shuster Eliassi entstand über mehrere Jahre – und verwandelt sich damit in ein ungeplantes Dokument einer Niederlage, wenn man so will, aber auch einer bewundernswerten Beharrlichkeit. Shuster Eliassi machte bereits vor der Pandemie Furore als Vertreterin einer eigentlich unmöglichen Position.
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Aufgewachsen im linksliberalen Projekt einer Community vorbildhaften jüdisch-arabischen Zusammenlebens, scherzte sie über den immer hohen Kontrast von Anspruch und Wirklichkeit. Mit Jokes wie „Keine Angst, ich bleibe nur sieben Minuten, keine 70 Jahre“, eroberte sie auch arabisches Publikum und als beißende Kritikerin der Herrschaft Netanjahus einen Nischenspot im israelischen Fernsehen.
Der 7. Oktober spaltet die eh schon fragmentierte israelische Opposition weiter und verändert alles. Aber Shuster Eliassi gibt nicht auf: Warum sie ihr Programm Coexistence, My Ass! nenne, wo sie doch für Koexistenz eintrete? Nun, um zu koexistieren müsse man erst einmal die gegenseitige Existenz anerkennen … Trotz Verzweiflung über die aktuelle Lage macht Amber Fares‘ Film dank des schwarzen Humors der Protagonistin Mut zum „Trotz alledem“.
Mit Debra Graniks fünfstündigem Conbody vs Everybody zeigte das Festival zuletzt eine wahre Perle der Langzeitbeobachtung. Über sieben Jahre lang filmte Granik den Ex-Häftling Cass Merte, der sich mit einem Fitnessstudio-Konzept, das seine Hafterfahrungen aufgreift und ironisch spiegelt, ein neues Leben aufbaut. Mit ihm im Zentrum fächert Granik das Wirken des US-amerikanischen Gefängnissystems mit Masseninhaftierung auf. Gerade weil sie ihren Fokus auf die Entlassenen und ihre Anstrengungen der Resozialisierung richtet, ist ihr Blick für die Folgen für die Gesellschaft umso schärfer.
Graniks Film passte damit ausgezeichnet zur diesjährigen Retrospektive, die, einmalig in Leipzig, sich mit der Geschichte des Festivals selbst beschäftigte: Unter dem Titel „Un-American Activities“ wurden ausschnitthaft amerikanische Beiträgegezeigt, die hier in den Zeiten des Kalten Kriegs liefen. Ein großartiges Programm, das wie so vieles doppelt lesbar war: Als Belege der im Sozialismus üblichen USA-Kritik behandelten diese Filme einerseits vor allem Armut, Ungleichheit und politische Kontrolle in Amerika, führten andererseits aber oft genug vor Augen, wie groß doch auch der Spielraum für Kritik im Westen war.
Als Fazit für DOK Leipzig 2025 steht großes Lob für ein an Facetten und Höhepunkten ungeheuer reiches Programm. So sehr man Ola Staszel als neue Leiterin Glück wünscht, so groß ist das Bedauern darüber, dass Christoph Terhechte geht.