Frustrierte Ärzte: Diese Praxis bleibt heute leider geschlossen

Khaled Abou Lebdi kann dieser Tage endlich mal wieder etwas durchatmen. Gut drei Monate herrschte in der Gemeinschaftspraxis des Kinderarztes im nordrhein-westfälischen Heinsberg der Ausnahmezustand. „Corona, die Grippewelle, das RS-Virus, da kam alles zusammen“, sagt er. Teilweise untersuchten seine Kollegin und er 160 Patienten am Tag – in normalen Zeiten sind es weniger als 90.

Britta Beeger

Redakteurin in der Wirtschaft und zuständig für „Die Lounge“.

Wer krank ist, kann kommen: So lautet das Prinzip in Lebdis Praxis. „Dazu sind wir verpflichtet“, sagt er. Auch, wenn er dann statt um 18 Uhr erst um 19 Uhr mit der Sprechstunde durch ist. Das Problem ist nur, dass sich die Mehrarbeit für den 54-Jährigen finanziell kaum lohnt. Denn wenn der Andrang sehr groß ist, so wie in den vergangenen Wochen, bekommt er die Behandlungen von einem gewissen Punkt an nur noch zum Teil vergütet. Oder, wie Lebdi sagt, seine Arbeit wird dann automatisch schlechter bezahlt.

In seinen Worten schwingt Frust mit, und mit dem ist Khaled Abou Lebdi nicht allein. Unter niedergelassenen Ärzten ist der Unmut groß. Das liegt an den gedeckelten Budgets und daran, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Extravergütung für Neupatienten gekippt hat, um im defizitären Gesundheitswesen Geld zu sparen. Daran, dass die Kosten für das Praxispersonal, für Miete, Strom und Gas stark steigen, es dafür aus Sicht der Ärzte aber keinen Ausgleich gibt. Und an einem Dauerbrenner – der Bürokratie in den Praxen und dem Risiko, von den gesetzlichen Krankenkassen in Regress genommen zu werden. So wie die Pfung­städter Ärztin Frauke Hofmann, die einer dementen Patientin eine Kombinationstablette verschrieben hat statt drei einzelner Pillen. „Drei Tabletten nimmt sie nämlich nicht.“ Die Kombitablette ist etwas teurer, deshalb soll die Ärztin 20 Cent am Tag für die vergangenen zwei Jahre nachzahlen. „Das ist nicht die Welt. Aber es ärgert mich.“

Virchowbund ruft zur Viertagewoche auf

Nun gehört es im Gesundheitswesen fast schon zum guten Ton, dass sich Ärzte, Kassen und die Politik öffentlich beharken. Neuerdings drohen Ärztevertreter aber sogar damit, die Versorgung einzuschränken, wenn sich die Lage nicht bessere. So rief der Verband der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, der Virchowbund, kürzlich dazu auf, den Betrieb in den Praxen auf eine Viertagewoche umzustellen. „Leistungen, die nicht bezahlt werden, können auch nicht erbracht werden. Deshalb müssen wir unsere Leistungen einschränken“, sagte der Vorsitzende Dirk Heinrich. Ähnlich äußerte sich vor Weihnachten der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte, der Proteste ins Spiel brachte. „Fest steht: Wir werden keine unbezahlten Leistungen mehr erbringen“, sagte Vizepräsident Stefan Renz. In Brandenburg machten Haus- und Fachärzte Anfang Oktober schon ernst und absolvierten eine Woche „Dienst nach Vorschrift“, sprich: Sie boten nur die vorgeschriebenen Mindestsprechstunden an.

Der Vorschlag des Virchowbunds schlägt hohe Wellen. Viele niedergelassene Mediziner und deren Mitarbeiter sind froh, dass ihre Belastung endlich einmal thematisiert wurde, nicht nur die in den Krankenhäusern. Zugleich zeigten sich Teile der Öffentlichkeit angesichts der vollen Wartezimmer empört über die Idee einer Viertagewoche in den Praxen. Schließlich verdienten die Ärzte prächtig.

Die Frage, wie gut es den Ärzten finanziell tatsächlich geht, ist berechtigt, allerdings nicht einfach zu beantworten. Das Statistische Bundesamt gibt die Durchschnittseinnahmen je Praxis mit 602.000 Euro im Jahr an. Abzüglich der Sach- und Personalkosten bleiben im Mittel 296.000 Euro übrig, geteilt durch die Zahl der Inhaber sind es 215. 000 Euro. Dieser sogenannte Reinertrag klingt gut, er ist aber nicht mit dem Arzteinkommen oder dem Gewinn gleichzusetzen. Abziehen muss man zum Beispiel die Aufwendungen für die Betriebsübernahme, die Versicherungen, die Altersvorsorge, die Steuern. Zudem gibt es große Unterschiede zwischen den Fachrichtungen. Am meisten erzielen Radiologen, Nuklearmediziner und Strahlentherapeuten, ihr Reinertrag beträgt 1,3 Millionen Euro. Mit weitem Abstand folgen Hautärzte und Orthopäden mit etwa 340.000 Euro. Am unteren Ende rangieren die Kinder- und Jugendmediziner mit weniger als 240.000 Euro. Allgemeinmediziner, viele von ihnen sind Hausärzte, liegen mit 252.000 Euro ebenfalls unter dem Durchschnitt.

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung rechnet anders und ermittelt statt eines Reinertrags einen Jahresüberschuss: Im Durchschnitt seien das 173.000 Euro. Abzüglich der ärztlichen Altersvorsorge, der Kranken- und Pflegeversicherung sowie der Einkommensteuer erreiche das Nettoeinkommen knapp 86.000 Euro im Jahr oder 7100 Euro im Monat. Umgerechnet auf 46 Arbeitswochen mit den üblichen 45 Wochenstunden ergebe sich ein Nettosatz von 41 Euro in der Stunde. Im Durchschnitt verdienen Ärzte damit mehr als andere Berufsgruppen. Berücksichtigt man aber die lange Ausbildung, die Verantwortung, das finanzielle und in Pandemiezeiten nicht zuletzt gesundheitliche Risiko, erscheinen die Einnahmen nicht mehr ganz so prächtig.

„Natürlich nagen wir nicht am Hungertuch“

Der Kinderarzt Lebdi findet, dass es darauf ohnehin nicht ankommt. „Natürlich nagen wir nicht am Hungertuch“, sagt er. Dennoch müsse die Vergütung aufgrund der Kostensteigerung deutlich zulegen. Das Honorarplus von 2 Prozent in diesem Jahr falle in Anbetracht von 10 Prozent Inflation viel zu niedrig aus. „Wenn ich mein Einkommen halten will, geht das nur mit immer mehr Selbstausbeutung“, sagt er. Mehrarbeit müsse zudem voll bezahlt werden. Wenn man einen Klempner wegen eines Wasserrohrbruchs rufe, werde es bei fünf Rohrbrüchen auch nicht billiger.

Die Kassen entgegnen, die 2 Prozent entsprächen 780 Millionen Euro. Einschließlich anderer Vergütungen betrage das Plus für 2023 sogar 1,4 Milliarden Euro – 11.000 Euro je niedergelassenem Arzt. Zur Viertagewoche sagt der Sprecher des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen (GKV): „Ich frage mich, wie der Virchowbund bei einem durchschnittlichen Reinertrag pro Praxisinhaber von über 215.000 Euro dazu aufrufen kann, die Leistungen für die Patientinnen und Patienten einzuschränken.“ Mehr als zwei Drittel der Praxiseinnahmen kämen aus den Krankenkassenbeiträgen. Das Bundesgesundheitsministerium weist zur Viertagewoche darauf hin, dass es zwar keine Vorgaben gebe, wie die Ärzte die Sprechstundenzeit auf die Wochentage verteilten. Vertragsärzte mit einem vollen Versorgungsauftrag seien jedoch verpflichtet, mindestens 25 Stunden in der Woche anzubieten.

Doch zurück zu der Kritik der Ärzte, dass Mehrarbeit nicht voll bezahlt werde. Um das zu verstehen, muss man sich mit dem Abrechnungssystem in der GKV auseinandersetzen. Zur Begrenzung der Ausgaben sind die Einnahmen der Ärzte gedeckelt: Die Kassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen legen jedes Jahr Budgets fest, die sogenannte Morbiditätsbedingte Gesamtvergütung. Über ein kompliziertes Verfahren auf Länderebene deckelt das letztlich die Einnahmen jeder einzelnen Praxis. Behandelt ein Arzt mehr als vorgesehen, verwässert das die durchschnittliche Vergütung. In Städten wie Hamburg oder Berlin werden je Patient nur 80 bis 90 Prozent honoriert. Viele Ärzte klagen daher, sie arbeiteten am Quartalsende „umsonst“, was Lauterbachs Sprecher aber zurückweist: „Die Behauptung, dass regulär erbrachte ärztliche Leistungen nicht vergütet würden, ist falsch.“ Die „Mengensteuerung“ führe zwar dazu, dass es für Leistungen oberhalb der Grenze „abgestaffelte Preise“ gebe, also weniger Geld je Fall als vorgesehen. Das sei aber nicht die Regel. Gerade unter Hausärzten könne „der angeforderte Leistungsbedarf vollständig vergütet werden“.

Privatpatienten subventionieren die gesetzlich Versicherten

Was indes stimmt an der Klage der Ärzte, ist, dass mit reinen Kassenleistungen keine großen Sprünge zu machen sind. Die Mediziner rechnen nicht Eurobeträge ab, sondern Punkte, die einzelnen Behandlungen zugeordnet sind. Die Punkte werden mit einem Orientierungspunktwert multipliziert, den die Kassen mit der Kassenärztlichen Vereinigung aushandeln. Dieser Faktor beträgt knapp 11,50 Cent. Daraus ergibt sich, dass ein Ultraschall der Schilddrüse 8,85 Euro einbringt, für den gesamten Bauchraum sind es 16,43 Euro. Wenn das Budget aber ausgeschöpft ist, gibt es weniger je Punkt, deshalb heißt es „Orientierung“.

Damit sich die Arbeit trotzdem lohnt, halten Praxisbetreiber ihre Kosten so gering wie möglich, verschlanken die Arbeitsabläufe, sparen am Personal. Außerdem subventionieren die Privatpatienten die gesetzlich Versicherten: Zwar sind nicht einmal 11 Prozent der Bevölkerung privat versichert, die Privatabrechnung macht aber fast 26 Prozent der ­Praxiseinnahmen aus. Darunter fallen auch Barzahlungen von Kassenpatienten für individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL), die nicht zur vertragsärztlichen Versorgung gehören: Atteste, der Ultraschall der Eierstöcke oder der PSA-Test der Prostata. Nach Schätzungen der AOK „igeln“ die Deutschen jedes Jahr für eine Milliarde Euro. In drei Viertel der Fälle gehe die Initiative vom Arzt aus, der gezielt einkommensstärkere Patienten anspreche. Zum Vergleich: Die Ausgaben der Kassen für die ambulante Versorgung betragen 45 Milliarden Euro.

In Kinder- und Hausarztpraxen spielen IGeL-Leistungen kaum eine Rolle. Sie sind besonders abhängig von den Kassenpauschalen, die sie ein Mal im Quartal bekommen können – unabhängig davon, wie oft die Patienten kommen. Lediglich in der Prävention gebe es zusätzliches Geld, sagt Kinderarzt Lebdi, etwa für Impfungen und Vorsorgen. Dieses Geld stammt aus der nicht gedeckelten, extrabudgetären Kassenvergütung, doch ist dieser Topf nicht einmal halb so groß wie die Morbiditätsbedingte Gesamtvergütung.

Einige Ärzte werden daher erfinderisch. „Viele optimieren das System, um gut über die Runden zu kommen. Man kann auch sagen: Sie schummeln“, verrät ein Arzt aus Norddeutschland. Damit meint er, dass Untersuchungen abgerechnet werden, die gar nicht stattgefunden haben – „schummeln“ ist dafür ein Euphemismus. Als besonders einträglich beschreibt er die extrabudgetierte Betreuung von Altenheimen. „Wir haben uns zwei, drei Bewohner angeguckt, den Kopf ins Schwesternzimmer gesteckt, gefragt: ‚Sind die anderen auch fit?‘ und dann 20 Visiten abgerechnet.“ Das System sei an dieser Stelle deshalb so freigiebig, weil die ambulante Betreuung viel günstiger sei, als kranke Pflegebedürftige einzuweisen.

In großen Teilen der Vergütung sieht es anders aus, von Freigiebigkeit kann dort keine Rede sein. Zumindest für die Kinderärzte zeichnet sich aber eine Lösung ab. Kürzlich trafen sich Vertreter ihres Verbands mit Lauterbach. Dieser versprach, für Kinderarztpraxen solle es keine fixen Budgets mehr geben. Für die Kinder- und Jugendärzte bleibt zu hoffen, dass es tatsächlich so kommt, denn Ähnliches hatte Lauterbach im Dezember im Bundestag angekündigt, dann aber mit einem Brief die Verantwortung für eine Lösung auf die Selbstverwaltung abgeschoben, also auf die Kassenärztliche Bundesvereinigung und den GKV-Spitzenverband. Die Kinder- und Jugendärzte hatten ihm daraufhin Wortbruch vorgeworfen. Nun zeigen sie sich in einer Mitteilung optimistisch: Das Gespräch sei „sehr kons­truktiv verlaufen“.

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