Frühkindliche Bildung: Eine Kita-Pflicht sollte kein Tabu mehr sein

Frühkindliche Bildung: Eine Kita-Pflicht sollte kein Tabu mehr sein

In kaum einem Industrieland sind die Bildungschancen
so ungleich verteilt wie in Deutschland. Trotz eines größtenteils öffentlichen
Bildungs- und Betreuungssystems hängen die Bildungschancen in Deutschland
stärker von der sozialen Herkunft – insbesondere der Bildung und dem Einkommen
der Eltern – ab als in vielen anderen Ländern. Eine neue Studie zeigt, wie
stark der Schlüssel für diese Ungleichheit in der frühkindlichen Bildung liegt.

Deutschland hat ein doppeltes Problem mit seinem
Bildungssystem: Zum einen nehmen Kompetenzen ab; zum anderen ist die
Ungleichheit im Bildungsniveau bei Kindern und Jugendlichen groß und hat sich
in den vergangenen 20 Jahren auch kaum verändert – so die Pisa-Studien der OECD.
Das Niveau bei den Fähigkeiten in Bezug auf Lesen, Mathematik und
Naturwissenschaften nimmt seit gut zehn Jahren stetig weiter ab.

Eltern stehen unter großem Druck

Das deutsche Bildungssystem steckt fest. Es ist
unfähig, sich mit der Zeit und den Veränderungen in Arbeitsmarkt, Medien und
Gesellschaft weiterzuentwickeln und den Anforderungen gerecht zu werden. Die
Beharrungskräfte bei Politik, Eltern und den Bildungseinrichtungen sowie die
häufig mangelnde Transparenz und Rechenschaft machen Reformen allzu häufig
unmöglich.

Einer der Hauptgründe für die zunehmende
Ungleichheit der Bildungschancen liegt in den Veränderungen am Arbeitsmarkt und
im Familienmodell, vor allem in Westdeutschland. Elternpaare stehen unter
großem Druck, dass beide berufstätig sind. Befragungen zeigen,
dass beide Eltern sich dies wünschen und gleichermaßen hohen Wert auf eine
berufliche Karriere legen. Im internationalen Vergleich ist dieser Wunsch nicht
ungewöhnlich. Deutschland unterscheidet sich jedoch von den meisten anderen
westlichen Demokratien dadurch, dass das Bildungs- und Betreuungssystem in
Deutschland sehr viel Verantwortung an die Eltern übergibt. Obwohl seit mehr
als zehn Jahren ein rechtlicher Anspruch auf einen Kitaplatz besteht, haben ein
Fünftel der Familien mit ein- bis zweijährigen Kindern keinen Platz. Auch bei drei- bis fünfjährigen Kindern und
Grundschulkindern ist der Bedarf an Betreuungsplätzen nicht vollständig
gedeckt. 

Auch an der Qualität mangelt es häufig, sodass die
Eltern schulische Defizite kompensieren müssen. Eltern mit guter Bildung und
starkem Einkommen können dies meist sehr viel besser. So haben knapp die Hälfte
aller Kinder und Jugendlichen im Alter von 15 Jahren bereits
Nachhilfeunterricht bekommen. Diese Hälfte lebt jedoch größtenteils in
Haushalten mit hohen Einkommen, in denen die Eltern sich die Kosten leisten
können.  

Der Schaden ist enorm

Zum anderen ist die Ungleichheit bei
Bildungschancen und Abschlüssen in Deutschland größer als in den meisten
anderen Industrieländern. Etliche Studien haben gezeigt, dass Abschlüsse und
Bildungserfolge ungewöhnlich stark von der sozialen Herkunft, also insbesondere
von Einkommen und Bildung der Eltern, abhängen.
75 Prozent der Kinder, deren
Eltern Abitur haben, besuchen ein Gymnasium, jedoch nur 28 Prozent der Kinder,
deren Eltern kein Abitur haben.
Fast die Hälfte des Einkommens im Berufsleben wird durch den
Familienhintergrund erklärt.

Der Schaden durch die hohe Ungleichheit der
Bildungschancen für Wirtschaft und Gesellschaft ist enorm. Knapp 50.000 junge Menschen gehen jedes Jahr ohne
Schulabschluss von der Schule – eine hohe Zahl. Der Lebensweg von vielen von
ihnen ist somit vorgezeichnet. Die Arbeitslosenquote derjenigen ohne
Berufsabschluss liegt bei mehr als 20 Prozent
, die von denen ohne Schulabschluss liegt noch deutlich darüber. Prekäre
Beschäftigung und Arbeitslosigkeit führen zu einer schlechteren Gesundheit,
weniger Zufriedenheit und Glück sowie einer geringeren Autonomie. Allzu oft
führt dies in einen Teufelskreis, und es heißt: „Armut vererbt sich“. Die
kommenden Generationen haben eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, selbst mit
wenig Bildung und Einkommen ihrer Chancen beraubt zu werden und in Armut zu
landen. Und auch für den Sozialstaat sind die dadurch verursachten Kosten
enorm.

Die frühkindliche Bildung ist der Schlüssel

Umgekehrt ist der potenzielle Nutzen eines besseren
Bildungssystems, das vor allem mehr Chancengleichheit schafft, groß.
Intelligenz sowie kognitive und nicht kognitive Fähigkeiten sind kaum genetisch
bedingt, sondern
vor allem durch das Umfeld und das eigene Elternhaus geprägt. Die geringe
Mobilität bei Bildungschancen bedeutet, dass viele junge Menschen ihre
Fähigkeiten und Talente nicht voll entwickeln und nutzen können. Dadurch
entgeht auch der Wirtschaft ein riesiges Potenzial an Fachkräften, die in
Zeiten des demografischen Schrumpfens dringender denn je benötigt werden. Mehr
und besser qualifizierte Fachkräfte bedeuten Innovation und Wachstum, bessere
Arbeitsplätze und eine höhere Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft.

Eine neue Studie des DIW Berlin zeigt, dass der Schlüssel in der frühkindlichen
Bildung liegt.
Die Analysen ergeben, dass die soziale Herkunft in Deutschland
einen beträchtlichen Teil der Ungleichheit im Bildungserfolg vor allem in den
ersten Lebensjahren erklärt. So werden 20 Prozent der Sprach- und 14 Prozent
der Mathematikkompetenzen von Siebenjährigen in Deutschland allein durch
Bildung und Einkommen der Eltern erklärt. Dies ist deutlich mehr als in anderen
Industrieländern.

Besonders erschreckend ist der Vergleich mit den USA: Der
Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft
und sprachlichen Kompetenzen ist in Deutschland noch stärker als in den USA (in
Deutschland gehen 20 Prozent der Unterschiede auf die soziale Herkunft zurück,
in den USA 12 Prozent). Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und
Mathematikkompetenzen ist in Deutschland genauso stark wie in den USA (jeweils
14 Prozent). Die Einkommensungleichheit ist in den USA deutlich größer als
in Deutschland, ein großer Teil des Bildungssystems in den USA ist privat organisiert, und
auch bei öffentlichen Schulen sind die Einkommen der Eltern durch Abgaben und
direkte finanzielle Beiträge
wichtig. Und trotzdem spielt die soziale Herkunft in Deutschland eine noch
größere Rolle als in den USA.

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