Deutschland droht gerade seine Zukunft zu verspielen, wenn es die von Friedrich Merz (CDU) angeführte Regierung nicht zügig eine wirtschaftspolitische Kehrtwende hinlegt. Davor warnte Otmar Issing, der frühere Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, am Montag in Berlin. Er sieht das Land vor ähnlichen Herausforderungen wie vor einem Vierteljahrhundert, auf die Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) damals mit der gerühmten wie angefeindeten Agenda 2010 reagierte. Anschließend seien diese Reformen Stück für Stück zurückgenommen und Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung aufgebaut worden – mit schon auf mittlere Sicht untragbaren Belastungen, warnte der renommierte Ökonom. So stehe Deutschland wirtschaftspolitisch am Ende der Ampelkoalition mehr oder weniger wieder da wie seinerzeit unter Schröder. Damals habe die Rekordarbeitslosigkeit die Änderungsbereitschaft ausgelöst. Sollten heute die gewaltigen Herausforderungen, die durch multiple Schocks hervorgerufen würden, nicht eine ähnliche Bereitschaft zu Reformen erzeugen? Auf seine rhetorische Frage gab er eine ernüchternde Antwort: „Leider kann davon nicht entfernt die Rede sein.“
Die Verweigerung, der Realität ins Auge zu sehen, hat nach Issings Worten beängstigende Ausmaße angenommen. Das gelte vor allem für die sozialen Leistungen. Die Aufwendungen für Gesundheit und Pflege liefen aus dem Ruder. Die gewaltigen Lücken in der Rentenversicherung seien seit Jahren bekannt. Die Zuweisungen des Bundes drohten andere wichtige Aufgaben zurückzudrängen. Issing erinnerte an den Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in Frankreich, der nach einer Naturkatastrophe einfach eine Wiederkehr untersagt habe. Wenn harte Einschnitte notwendig seien, gebe es diese üblicherweise zu Beginn einer neuen Legislaturperiode.
Die schwarz-rote Bundesregierung habe das auf den Kopf gestellt. Sie verschiebe die Entscheidung in der Rentenpolitik auf das letzte Jahr vor der Bundestagswahl und belaste das System sogar noch zusätzlich mit rund 200 Milliarden Euro. Auf den Ausgang des Tests für den neuen Ansatz dürfe man gespannt sein, spottete der Volkswirt. Woher solle dann die Unterstützung für die schließlich unvermeidliche, zwangsläufige, radikale Reform so kurz vor der Wahl kommen? Er warnte vor einer Beschädigung des Vertrauens in die Demokratie, langfristige Probleme lösen zu können. Eine Wirtschaft mit einem langfristigen Wachstum der Wirtschaft von 0,5 Prozent, sei nicht in der Lage, den ausgerufenen Wohlfahrtsstaat zu tragen, warnte der Ökonom. Stärkeres Wachstum helfe, über mehr Beschäftigung den Sozialstaat zu entlasten. In einer Phase, in der die öffentliche Verschuldung um 900 Milliarden steigen werde, seien Steuererhöhungen nicht mehr tabu. „Das muss man sich einmal vorstellen.“
Viele Beispiele des staatlichen Versagens
Issing, der vom Wirtschaftspolitischen Club Deutschland für seinen langjährigen Einsatz für die Soziale Marktwirtschaft und die Ordnungspolitik ausgezeichnet wurde, fürchtet überzogene Erwartungen an die Möglichkeiten des Staates – obwohl er dagegen viele Beispiele des Versagens stehen sieht. „Nur ein Hinweis: Wie kann man an die Überlegenheit staatlicher Zukunftsprojekte glauben, wenn der Staat wie etwa in Deutschland jahrzehntelang dem Verfall des Eisenbahnnetzes tatenlos zugesehen hat?“, fragte er.
Der Glaube, der Staat könne mit einer aktiven Industriepolitik zukunftsträchtige Branchen gleichsam selbst großziehen, ist Issings Sache nicht. Im Gegenteil. „Risikobewusstsein, ohne dass Investoren eigenes Geld einsetzen, ist nicht viel wert“, befand Issing kühl. Zudem bestehe die Gefahr, dass der Staat im Falle drohenden Scheiterns weiteres Geld zuschieße, um die Offenbarung des Misserfolgs möglichst lange zu kaschieren. Es gehöre zum Wesen einer Marktwirtschaft, dass der Investor die Chance künftigen Gewinns gegen das Risiko des Verlusts bis hin zum Bankrott empfange. Nichts habe der Akzeptanz der Marktwirtschaft in der Öffentlichkeit mehr geschadet als die letztlich unvermeidliche Rettung großer Banken in der Finanzkrise. Das sei so verstanden worden, als wenn Gewinne privat blieben, Verluste aber die Allgemeinheit trage, also der Steuerzahler.
Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) hatte zuvor Issing in ihrer Laudatio als Wissenschaftler, Geldpolitiker und wirtschaftspolitischen Berater gerühmt, der mit seinem Lebenslauf mustergültig für das Aufstiegsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft stehe. Ihm sei der Erwerb akademischer Meriten und öffentlicher Ämter nicht von vornherein in die Wiege gelegt worden. „Als Schüler und auch als Student haben Sie in der Gaststätte ihrer Eltern selbstverständlich angepackt.“
Das steht für Reiche für das Prinzip: Wer sich anstrengt, kann etwas aufbauen. „Und das bedeutet eben auch, dass es ohne Anstrengung nicht geht.“ Um die Wachstumskräfte zu revitalisieren, müsse man diese Dimensionen der Sozialen Marktwirtschaft wieder stärken. Die Menschen müssten sehen, dass es sich lohne, mehr zu arbeiten und mehr zu tun.