Fritz Breithaupt: „Empathie kann Konflikte verschärfen“

ZEIT ONLINE: Herr
Breithaupt, Empathie wird gemeinhin als Allheilmittel gegen Krieg, Leid und
Ungerechtigkeit gehandelt. Warum widersprechen Sie dieser Annahme?

Fritz Breithaupt: Empathie verleitet zu einem
Freund-Feind-Denken. Konflikte eskalieren nicht trotz, sondern aufgrund von
Empathie, da Menschen Partei ergreifen und die gewählte Seite empathisch
beschönigen.

ZEIT ONLINE: Damit
wäre die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, etwas Negatives.

Breithaupt: Empathie macht uns zu Menschen. Empathie
unterscheidet uns von Tieren. Wir können miterleben, wie andere Wesen
sich fühlen, und haben Einsicht in das verborgene Innere anderer Menschen. Das
ist eine große Leistung unseres Gehirns. Aber in Konfliktfällen beobachte ich,
wie gerade Empathie Konflikte verschärfen kann.

Fritz Breithaupt ist Professor für Germanistik und Kognitionswissenschaften an der Indiana University Bloomington. Seine letzten Bücher sind „Das narrative Gehirn“ und „Die dunklen Seiten der Empathie“, die beide bei Suhrkamp erschienen sind. Er leitet das Experimental Humanities Lab.

ZEIT ONLINE: Das müssen Sie erklären.

Breithaupt: Wenn wir einen Konflikt zwischen
zwei Parteien beobachten, tendieren wir dazu, sehr schnell, häufig auch
spontan, Partei zu ergreifen. Das kann ein harmloses Sportereignis sein, aber
eben auch ein Krieg wie derjenige im Nahen Osten. Dann schlüpfen wir in die
Rolle dieser Partei und übernehmen nicht nur die Perspektive, sondern auch die
Gefühle und Werturteile dieser Position. Aus dieser gewählten Position heraus
ist der andere dann der Gegner, der im Unrecht ist, der für das Falsche steht.
Deshalb führt gerade unsere empathische Annäherung zur Abwertung der anderen
Seite. In vielen Fällen heißt das, dass ein Konflikt umso unlösbarer wird,
desto mehr Empathie vorhanden ist.

ZEIT ONLINE: Meine
empathische Parteinahme erschwert es mir, mich möglichst sachlich mit einem
Konflikt auseinanderzusetzen?

Breithaupt: Der Nahostkonflikt hat zum Beispiel dazu geführt, dass die verschiedenen
Parteien nicht mehr aufeinander zugehen, sowohl in den Ländern, die betroffen
sind, aber auch an den sekundären Streitplätzen wie in Deutschland oder an
amerikanischen Unis. Natürlich gibt es ungeheures Leid auf beiden Seiten, aber
sobald empathische Parteinahme ins Spiel kommt, hört man der anderen Seite oft
nicht mehr zu.

ZEIT ONLINE: In Deutschland wächst die Kritik an Israels
Vorgehen im Gazastreifen
. Darauf, wie die Bundesregierung sich gegenüber Israel positioniert,
und auch auf die öffentliche Meinung hat das jedoch wenig Einfluss. Hat unsere
ursprüngliche Parteinahme, das empathische Mitfühlen für die Opfer der Massaker
der Hamas, dafür gesorgt, dass eine möglichst objektive Neubewertung der Situation immer
schwieriger wird?

Breithaupt: Ob Deutschland oder amerikanischer
Unicampus, die Fronten sind einfach ungeheuer verhärtet. Eigentlich wäre jetzt
der Punkt, zu analysieren, wie noch mehr Leid verhindert werden kann. Dazu
gehört für Deutschland, sich zu fragen, wo wir zu weit gehen, wenn wir Israel
unsere Unterstützung zusagen, aber auch, wo Israel angesichts andauernden Raketenbeschusses
weiterhin das Recht auf Selbstverteidigung hat.

ZEIT ONLINE: Mich interessiert das Zusammenspiel von
Schuld und Empathie. Im Nahostkonflikt werden die unzähligen Opfer im
Gazastreifen häufig auf das militärische Vorgehen der Hamas zurückgeführt, der
vorgeworfen wird, sich inmitten dicht besiedelter Wohngebiete zu verschanzen.
Andersherum wird von der extremen Gegenseite das Massaker an den Israelis mit
der jahrzehntelangen Unterdrückung der Palästinenser gerechtfertigt. Lässt sich
durch diese Schuldzuweisungen die Empathie für die jeweils andere Seite zusätzlich
schmälern?

Breithaupt: Parteinahme wird umso leichter, je
mehr Schuld man der anderen Seite geben kann. Das funktioniert in beide
Richtungen. Je mehr ich Schuld bei der anderen Partei suche, umso mehr Empathie
kann ich für die gewählte eigene Position finden. Das ist ein klassisches Spiel,
das sehen wir sehr deutlich im Konflikt in Gaza und Israel. Wer sich für die
eine Partei entscheidet, blockiert Empathie für die andere Seite.

ZEIT ONLINE: Es wird häufig dafür plädiert, einen
Perspektivwechsel zu ermöglichen, Menschen also in Konfliktsituationen mit der
Situation der anderen Seite vertraut zu machen. Kann das Ihrer Meinung nach zu
der Entschärfung eines Konflikts führen?

Breithaupt: Jedem Perspektivwechsel wohnt auch
die Gefahr inne, eigentlich nur zu bestätigen, dass es sehr verschiedene
Positionen gibt. Die Perspektive der anderen Seite einzunehmen, kann also den
Konflikt in gewisser Weise bestätigen. Nach dem Motto: Ach, so sehen die
anderen das. Das kann auch gegen die andere Seite gemünzt werden.

ZEIT ONLINE: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Breithaupt: Das Handeln von Terroristen eignet
sich gut zur Erklärung. Konkret das Beispiel von Mohammed Atta (Anm. der Red.:
Atta gilt als Drahtzieher der Anschläge auf das World Trade Center)
, mit dem
ich zur gleichen Zeit an der Universität Hamburg studiert habe. Ich habe ihn
nicht persönlich kennengelernt, aber allen Berichten nach war er nicht das
empathielose Monster, für das ihn später viele hielten. Er hatte durchaus die
Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Empathie, er hat sich intensiv in den
westlichen Lebensstil hineingefühlt. Aber das hat er letztlich umgemünzt in
eine Überidentifikation mit einem urarabischen Volk, das er vom Westen
bedroht sah.

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch Die dunkle Seite der
Empathie
weisen Sie auf ein Experiment in Nordirland hin, das darauf ausgelegt
war, junge Menschen mit der Perspektive der jeweils anderen Seite vertraut zu
machen.

Breithaupt: In Nordirland gab es den
groß angelegten Versuch, Schülern und Schülerinnen die nordirische Geschichte so
nahezubringen, dass sie den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten
hinter sich lassen. Das Ziel war, dass sie die schrecklichen Ereignisse aus der
Perspektive der jeweils anderen Seite nachvollziehen können. Erst mal schien das
ein Erfolg zu sein. Aber dann gab es qualitative Nachfolgeinterviews. Bei
diesen Tests kam heraus, dass die Jugendlichen stärker polarisiert waren als
diejenigen, die nicht an dem Versuch teilgenommen haben, und sogar polarisierter
als vorherige Generationen.

ZEIT ONLINE: Herr
Breithaupt, Empathie wird gemeinhin als Allheilmittel gegen Krieg, Leid und
Ungerechtigkeit gehandelt. Warum widersprechen Sie dieser Annahme?

Fritz Breithaupt: Empathie verleitet zu einem
Freund-Feind-Denken. Konflikte eskalieren nicht trotz, sondern aufgrund von
Empathie, da Menschen Partei ergreifen und die gewählte Seite empathisch
beschönigen.

ZEIT ONLINE: Damit
wäre die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, etwas Negatives.

Breithaupt: Empathie macht uns zu Menschen. Empathie
unterscheidet uns von Tieren. Wir können miterleben, wie andere Wesen
sich fühlen, und haben Einsicht in das verborgene Innere anderer Menschen. Das
ist eine große Leistung unseres Gehirns. Aber in Konfliktfällen beobachte ich,
wie gerade Empathie Konflikte verschärfen kann.

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