Frankreich: „Am 1. Juli bin ich in einem anderen Land aufgewacht“

Frankreich sollte in den Spiegel schauen und die Frage stellen, was schiefgelaufen ist. Es könnte sich auch mehrheitlich dazu durchringen, in Runde zwei für die linke Volksfront zu stimmen, um eine Machtübernahme des Rassemblement National (RN) zu verhindern oder zumindest einzuschränken.

Während meines gesamten Erwachsenenlebens hing die Familie Le Pen wie ein Schatten über dem Land. Jean-Marie, der Vater, gefiel sich in Witzen über den Holocaust. Er war in den 1950er Jahren, während des Unabhängigkeitskrieges in Algerien, bei einem Korps französischer Fallschirmjäger, als seiner Einheit vorgeworfen wurde, Gefangene zu foltern. Dann kam seine Tochter Marine, die weniger bedrohlich wirkte, aber ehrgeiziger aussah. Schließlich deren Nichte Marion Maréchal, die sich als noch reaktionärer erwies. Der Einfluss der Familie schien zu wachsen, aber ich hatte immer die naive Vorstellung, dass „vernünftige Leute“, sowohl von rechts als auch von links, niemals zulassen würden, dass sie Wahlen gewinnt. Dies bewahrheitete sich 2002, als Jean-Marie Le Pen in die zweite Runde der Präsidentenwahl einzog und die Franzosen den Neogaullisten Jacques Chirac mit mehr als 80 Prozent gewinnen ließen. Dies wiederholte sich in den Jahren 2017 und 2022, als Marine Le Pen ebenfalls in die Stichwahl kam, aber nicht an Emmanuel Macron vorbei, einem anfangs vielversprechenden jungen Außenseiter, der die Trennlinie zwischen links und rechts niederreißen wollte. Es ist längst nicht mehr wahr.

Der Augenblick der Wahrheit

Am 1. Juli 2024 bin ich in einem anderen Land aufgewacht – einem, in dem der Le-Pen-Clan vor den Toren der Macht steht. Erstmals könnte in Frankreich eine rechtsextreme Partei die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnen und ihr 28-jähriges Aushängeschild, Jordan Bardella, im Hôtel Matignon das Büro des Premierministers beziehen. In der ersten Runde der von Emmanuel Macron vorgezogenen Parlamentswahl triumphierte ganz klar der Rassemblement National, den Jean-Marie Le Pen noch „Front National“ genannt hatte.

Unter diesen Umständen wird die Stichwahl zum Augenblick der Wahrheit für die französische Politik und das Land, für Europa und die Ukraine und so vieles mehr in dieser unruhigen Welt. Den 7. Juli beherrscht einzig die Frage, ob am Ende die Rechtsnationalen über ein Mandat verfügen, das Macron zu einer demütigenden und komplexen „cohabitation“ zwingt, ein sehr französisches Phänomen, bei dem der Präsident und der Premierminister aus gegensätzlichen Lagern stammen. Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, besteht darin, dass alle anderen Parteien einer einfachen Regel folgen: Sie ziehen ihre Kandidatinnen oder Kandidaten zurück, wenn sich im jeweiligen Wahlkreis ein Dreikampf abzeichnet, von dem der RN-Bewerber profitieren könnte.

Ohne absolute Mehrheit können die Rechtsnationalen zwar immer noch das Parlament blockieren, für politische Instabilität und möglicherweise Chaos sorgen; aber es wäre weniger schädlich, als wenn sie direkt an die Macht kämen. Zumindest denken das „vernünftige Leute“. Nur leider ist Politik komplizierter, wenn in einem polarisierten Land die Einheitsfront der Linken an zweiter Stelle steht und Macrons zentristischer Block mit klarem Abstand an dritter. Dann gibt es Menschen, die mehr Angst vor der Linken als vor der extremen Rechten haben.

Die Konservativen haben Angst vor den Linken

Nehmen Sie Le Figaro, die große alte Zeitung der Rechten – sie gehört zur Dassault-Familie, die für die Rafale-Jets berühmt ist. Am Montagmorgen erklärte dieses Blatt die zweite Wahlrunde zum Zweikampf zwischen Bardella und Jean-Luc Mélenchon, dem Führer der radikal linken Partei La France insoumise (LFI), einer wichtigen, aber nicht der einzigen Figur in der linken Parteienallianz.

Mélenchon ist für rechte Wähler eine furchterregende Person, sodass Le Figaro seinen Lesern unumwunden mitteilte, dass sie den niemals wählen sollten. Der frühere Premierminister Édouard Philippe und Noch-Finanzminister Bruno Le Maire haben zu verstehen gegeben, dass sie sich gegen den Rassemblement National aussprechen, ihre Anhänger aber wegen Mélenchon nicht dazu aufgerufen, für die Kandidaten der Linken zu stimmen. Wenn die Wähler am 7. Juli dieses Ressentiment teilen, eröffnet sich für den ersten ultrarechten Premierminister in der jüngeren französischen Geschichte die Chance zum Durchmarsch, und das Land ist auf dem Sprung ins Ungewisse.

Man kann sich natürlich fragen, warum Macron beschlossen hat, die Zukunft Frankreichs einer vorgezogenen Neuwahl auszusetzen, die zu gewinnen ihm von vornherein verwehrt war. Doch das zu ergründen, überlassen wir den Historikern, denn der Präsident ist eine ausgelaugte Kraft. Wir können uns auch fragen, warum Frankreich mit seinen vielen Vorzügen bei den Bürgern so viel Zorn, Verzweiflung und Unmut hervorgerufen hat, dass eine Wahl der Wirtschaft wie dem sozialen Zusammenhalt schadet und keines der wirklich quälenden Probleme löst. Man kann auch die politische Elite befragen, die so blind war, dass sie es der extremen Rechten ermöglichte, in den Milieus einer Gesellschaft zu gedeihen und Fuß zu fassen, die sich vergessen und verachtet fühlen.

All dies ist wahr und wird augenblicklich überall in Frankreich unter Freunden, Kollegen und in den Familien diskutiert. Alle schauen in den Spiegel und fragen sich, was nach der zweiten Wahlrunde bevorsteht. Zumindest müssen wir lernen, in einem geteilten Land zu leben, in dem der Rassemblement National kleine wie mittlere Städte und weite ländliche Regionen unter seine Kontrolle bringt, während sich in Großstädten wie Paris die „Vernünftigen“ (noch) nicht beirren lassen. Es ist wahrhaftig eine Tragödie sondergleichen.

Pierre Haski war Auslandskorrespondent und Mitherausgeber der französischen Tageszeitung Libération

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