Woran hält sich das Erinnern fest? Was bringt die Stimmung einer Zeit, vor allem die der Kindertage, ins Gedächtnis zurück? Das Riechen und das Schmecken, die Farbe einer Stimme, der Klang eines Wortes können etwas aufrufen, was sonst längst vergessen wäre. Und ein unerhörtes Ereignis kann sich so eingebrannt haben, dass sich Staunen und Schrecken in ihm vereinen. In Kerstin Hensels Gedicht „Gruß vom Kaßberg“ ist es eine Bahn, die wie ein ungeschickt benutztes Spielzeug auf die Seite kippt und liegenbleibt. Ein Erlebnis, das die gewohnten Abläufe unterbricht, ein Anschlag auf die Sicherheit des Daseins, der auch Jahre später nichts von seiner Dramatik verloren hat – und somit zum Auslöser einer Vergegenwärtigung werden kann.
Die Autorin, 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren, lebt schon lange in Berlin, kehrt in ihren Texten aber immer wieder an ihre Kindheitsorte zurück. Entkommen kann man seiner Herkunft ohnehin nicht, dem Aufwachsen im Erzgebirge und in der sächsischen Industriemetropole, in kleinen Verhältnissen und familiärer Enge. All das wird zum Gegenstand des Schreibens, Recherchierens und Nachdenkens. Wie in dem Prosastück „Die böse gute Stube“, in dem der Ausbruch in die Welt und in die Kunst, vor dem ein „Ahnenchor“ nachdrücklich warnt, zum Weg der Emanzipation und der Selbsterfahrung wird. Und zur Möglichkeit, das Biographische im Geschichtlichen zu spiegeln, die Etappen des eigenen Lebens als Schriftstellerin immer wieder abzugehen, ihren Widersprüchlichkeiten und Abgründen auf die Spur zu kommen. So gesehen ist auch der Kaßberg ein hochliterarischer Ort. Nicht nur, weil Autorinnen und Autoren dort lebten und arbeiteten, neben Kerstin Hensel etwa Angela Krauß und Stefan Heym. Sondern auch, weil dieses imposante Villenviertel, im letzten Drittel des neunzehnten und ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet, selbst zum Schauplatz von Verwandlungen und Verwerfungen geworden ist, die in Texten ihren Niederschlag finden.
Trümmer unter dem Asphalt
Wie in Hensels im vorigen Jahr erschienenen Roman „Die Glückshaut“, einer als Märchen erzählten poetischen Zeitreise, die ihre Protagonisten auch nach Chemnitz führt: „Es war einmal eine sächsische Industriestadt am Fuße des Erzgebirges. Sie war berühmt und verrußt, steinreich und elende in einem. Was der Krieg von ihr übrig ließ, die Gründerzeitvillen des Kaßberges zum Beispiel, trug fortan eine grusgraue Trauerhaut und machte nicht mehr viel von sich her. Straßen Plätze Trümmerstätten, von allem Alten geräumt, wurden ausgekehrt, damit das Neue auf sauberem Boden gedeihen konnte. Auf den schmalen Schienen, die das Land durchzogen, ratterten hundertjährige Straßenbahnen.“
Die auf den Berg führenden Verkehrsmittel sind in der DDR nur noch Relikte früheren Wohlstands und Fortschritts, das holprige Kopfsteinpflaster verabreicht die Dichterin, die zunächst als Krankenschwester arbeitet, den Bedürftigen als metaphorisches Trostpflaster, die alte Zeit soll neue Wunden heilen. Das Kaßberg-Gefängnis wird zur größten Untersuchungshaftanstalt der Stasi und zum zentralen Umschlagplatz für Insassen, die in den Westen verkauft werden sollen.
Die einst in sicherem Abstand zum Schmutz und Gestank der Fabriken im Tal gebauten Bürgerpaläste werden nun selbst grau, wer hier oben wohnt, ist nicht mehr automatisch privilegiert und wohlhabend, in den zahlreichen Neubauvierteln der zerbombten Stadt, die ihren Namen 1953 gegen den von Karl Marx tauschen muss, lebt man bequemer. Aber vielleicht auch eintöniger, konformer, geschichtsferner. Vom Zauber, den der verwunschene Ort auf dem Berg, die untergegangene Welt mit ihren neuen Bewohnern gerade für die Spiele der Kinder hatte, erzählen viele Texte Kerstin Hensels.
Ihr hier abgedrucktes Gedicht blickt in der dritten Strophe aus dem Heute zurück, nimmt die dritte und vorerst letzte Verwandlung der Gegend in den Blick: Die Schienen und das Kopfsteinpflaster sind verschwunden, sind zu archäologischen Artefakten geworden, zu Zeugnissen vergangener Zeiten. Das einst berüchtigte Gefängnis lädt als Jugendherberge zum freiwilligen Übernachten ein, die jüngst entstandene „Tanzende Siedlung“ mit ihren schwebenden Häusern ist kein Spielplatz für Kinder, sondern für Architekten. Die farbenprächtigen Jugendstilfassaden sind umfassend saniert und erstrahlen in einem Glanz, wie sie ihn vielleicht nie zuvor hatten.
Kann man angesichts der schönen Oberflächen vergessen, was unter all- dem verborgen ist, was sich in Jahrzehnten darin abgelagert hat, das Leid, die Zerstörung, die Hoffnung, das Glück? Wie ein Donnerspruch von Schicksalsgöttinnen, wie ein antikes Orakel dröhnt das „Menschenskinner!“ der „alten Weibsen“ durch die aufgeräumten Straßen. Sie wissen um die Trümmer unter dem Asphalt. In denen sie einmal Kinder waren.
Kerstin Hensel: „Gruß vom Kaßberg“
Als ich Kind war fiel die Straßenbahn
Um in der Kurve
Ich ging in die Pflege
Klebte Kopfsteinpflaster auf alle
Wunden
Heute graben sie die versunkenen Schienen aus
Der Stadt Die Untersuchungshaftanstalt
Nunmehr: Jugendherberge Ein schwebendes Haus:
Der Architekten Spielplatz
Menschenskinner! rufen die alten Weibsn
Über die Trümmer
Wie als sie Kinder waren
Source: faz.net