Frank Schätzings „Helden“: Mittelalter qua Wimmelbild – WELT

Lesbische Liebe, faule Kredite und Konflikte zwischen Indigenen und Globalisten: Der Bestsellerautor Frank Schätzing lässt das Mittelalter so aktuell erscheinen, als sei es von heute. Das Gute: Schätzing erzählt nur und behelligt einen nicht mit Botschaften.

Familienaufstellung: Der französische König Louis und seine Frau Marguerite, der englische König Henry III. und seine Frau Eleanor (die Schwester der französischen Königin) sowie der aufrührerische Earl of Leicester, Simon de Montfort, und seine Frau Nora, eine Schwester des englischen Königs, wollen einen letzten Versuch unternehmen, Henry und Simon zu versöhnen, und so hauen sie einander Verletzungen, Kränkungen, Ansprüche und unerfüllbare Forderungen um die Ohren. Es gelingt nicht.

Irgendwann sind nur noch Eleanor und Nora im Apfelgarten und machen im Regen weiter, eine 39-Jährige und eine 47-Jährige, die einmal einander viel bedeutet haben und sich jetzt voneinander lossagen. Dann „beugt Nora sich vor und küsst sie auf den Mund“, wie damals, als Eleanor erst 13 war, „Noras Hände wissen allzu genau, wo sie hinmüssen. Nicht bewegen. Ich darf nicht. Wenn ich mich bewege, bin ich verloren. Dann werde ich im Innern dieser Weide vergessen, wer ich bin, alles vergessen, aber da hält sie selber Nora schon umfangen, erwidert ihren Kuss, erwidert alles, spürt Noras Finger, wo sie nicht sein sollten“.

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Das steht da nicht wirklich, denkt man vielleicht bei dieser Stelle auf Seite 772 in Frank Schätzings Roman „Helden“. Steht da aber doch. Genauso, wie Schätzing seine Figuren „Scheiß Franz von Assisi mit Titten!“ fluchen lässt oder ein freundlicher Apothecarius der englischen Königin, die ihren von Typhus niedergestreckten Mann am Krankenlager besucht, Constantinus Africanus’ Werk „De coitu“ empfiehlt („Was, ein Buch über den Klimax?“, flüsterte sie. „Oh ja!“). Das 13. Jahrhundert, das er auf einen loslässt, hält sich nicht zurück, in keinerlei Hinsicht. Es explodiert, krawallt, frisst und übergibt sich, ständig fließen Körpersäfte, Fluten, Blut. Nach der Lektüre von „Helden“ denkt man nicht mehr, dass der Abstand zwischen der Gegenwart und dem Jahr 1263 beträchtlich sei.

Die Geschichte, die er erzählt: Eine Gruppe von Kölner Patriziern schmuggelt 50 Söldner und eine Tasche mit Gold nach England, Henry III. soll gegen die Rebellion der Barone unterstützt werden, die Simon Montfort gegen ihn anführt, eine Art Investition in Handelsprivilegien und Absatzmärkte. Natürlich geht dabei alles schief. Das Schiff der Kölner wird versenkt, an Land werden sie ohne Pause angegriffen, das Gold soll ihnen abgejagt werden und so weiter, wie das eben so ist in den Geschichten, denen man nachsagt, sie würden ein historisches Panorama entfalten.

Schätzing malt ein Wimmelbild

Allerdings ist es bei Schätzing nicht mit ruhiger Hand gemalt, sondern ein Wimmelbild. Schon sein Science-Fiction-Roman „Der Schwarm“ war ein solches. Auch „Helden“, die Fortsetzung von „Tod und Teufel“ (2006), berauscht sich an den Details, schildert das Erstürmen eines Verteidigungsturmes oder die Gewalt von Flammenwerfern ebenso akribisch wie die Speisefolgen bei Festmählern oder katalogisiert die Gerüche der Welten, die sein Buch durchmisst, so gründlich und ausufernd, dass man immer wieder vergisst, wo genau man gerade steht in all diesen ineinander gestapelten und aufeinander geschichteten Handlungssträngen – das Personenverzeichnis zählt über sieben Dutzend Namen auf.

Worum geht es gleich noch mal? Aber geht ein Roman denn um etwas? Selbstverständlich kann man in Schätzings 1263 immer wieder Echos von 2024 erkennen: die Lieferkettenprobleme, das Jonglieren mit Kreditkaskaden, die irgendwann platzen könnten, die Konflikte zwischen den Globalisierern und den Indigenen, die sich durch sie bedroht wähnen, die Strategien des Populismus – aber man bekommt von ihm keine Parabel und wird von ihm nicht mit Lehren behelligt.

Eher ist es, als habe er beschlossen, mit seinen Mitteln – jenen des von seinem Stoff faszinierten Geschichtenerzählers – kopfüber in die Geschichte hineinzuspringen und sich treiben zu lassen, wo immer sie hintreibt. Es macht ein immenses Vergnügen, mit ihm zu schwimmen. Auch wenn man nicht selten das Gefühl bekommt, untergehen zu müssen, taucht man dann doch immer und immer wieder auf und staunt über das Funkeln der Gischt. Gibt es nicht schon viel zu viele Romane, die sich zurückhalten? Hier ist das Gegenmodell, eine Geste, die, einmal losgelassen, sich nicht mehr zurückhalten kann. Schätzung hat schon eine Fortsetzung von „Helden“ angekündigt.

Frank Schätzing: Helden. Kiepenheuer & Witsch, 1040 Seiten, 36 Euro.

Source: welt.de

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