Die Ausstellung hebt an mit dem Satz „Jitka Hanzlová (* 1958) zählt zu den renommiertesten Fotograf:innen der Gegenwart“. Eine Phrase, der zu entkommen im Kunstbetrieb offenkundig so ermüdend wie unmöglich ist. Jitka Hanzlová hat derlei Etiketten nicht nötig, ihre Fotografien kommen auf leisen Sohlen, um sich dann wie selbstverständlich am Küchentisch niederzulassen.
Als Dreiundzwanzigjährige floh Hanzlová aus der Tschechoslowakei nach Deutschland, studierte Visuelle Kommunikation in Essen, blieb dort wohnen. Als Fotografin war sie bald mehr als ein Gerücht, sie bekam Ausstellungen und Preise, darunter den Grand Prix Award des Fotofestivals in Arles (2003) und den Paris Photo Prize for Contemporary Photography (2007). Die letzte große Einzelausstellung fand vor sechs Jahren in der Nationalgalerie in Prag statt, nun verbeugt sich die Albertina mit einem verdienstvollen Überblick über ein dreieinhalb Jahrzehnte umspannendes Werk. Gestaltet hat die Ausstellung in der Pfeilerhalle Walter Moser, sie strahlt eine gediegene Klassizität aus. 134 Bilder werden gezeigt, zehn Werkgruppen, meist niedrig gehängt, gelegentlich rhythmisiert durch Formatwechsel.
Der Verlust von Sprache und Heimat ist die prägende Erfahrung der jungen Frau in Westdeutschland. Als der Eiserne Vorhang fällt, kehrt sie 1990 zurück nach Rokytník – ihr Heimatdorf liegt etwa auf halber Strecke zwischen Prag und Breslau im Norden Böhmens, in der Mitte Europas und zugleich in der Mitte von Nirgendwo, jedenfalls aus Sicht von Kunstmetropolen. Die Armut des späten Sozialismus ist in der Serie „Rokytník“ zu sehen, wird aber nicht ausgestellt: Hanzlová kommt als Innenseiterin, und sie legt das Innerste frei.
Die Natur existiert nur noch in Schrumpfform
Ausschließlich in Hochformaten zeigt sie Kinder, Eltern, Großeltern, eine Wäscheleine, Spielzeug, Frauen in Blumenkleidern, ein paar alte hölzerne Skier, einen ausrangierten Brennkessel, ein Ehebett und die das Dorf – das man nicht zu sehen bekommt – umgebenden Felder, Wiesen und Wälder. Ein blasser Himmel überwölbt den ländlichen Alltag, den die Fotografin mit entwaffnender Zärtlichkeit in Szene setzt. Keine Sozialreportage, sondern, wie man heute gern sagt, nah am Menschen. Melancholie, Ernst und Würde, mit einem Schuss Humor – nicht nur bei einem frisch geschlachteten Schwein, das im Tod zu lächeln scheint.
Grau und wüst geht es in „Bewohner“ (1994–1996) und „Hier“ (1998, 2003– 2010) zu, Bildern vom städtischen Gegenentwurf zum Dorfleben, aufgenommen in Essen oder Berlin. Die Natur existiert nur noch in Schrumpfform, Mauern und Zäune dominieren, die Bilder werden menschenleer, weil der Mensch von seiner selbst gebauten Lebenswelt verschluckt wird. Tiere im Zoo wie ein Pfau oder ein Pinguin treten an seine Stelle.
Überraschend expressive Gesten
Mit „Females“ (1997–2000) zeigt Hanzlová Frauen, die sie in Düsseldorf, London oder Los Angeles auf der Straße angesprochen und ad hoc abgelichtet hat, eine Porträtform, die auch 2002 im Londoner Einwanderviertel Brixton zum Tragen kam. Im Dreiviertelporträt blicken Frauen aller Hautfarben ernst, lächeln höchstens ansatzweise. Wer sie sind? Die Geschichte zum Bild darf der Betrachter entwickeln, dass sich Hanzlová Migrantinnen nahe fühlt, davon darf man ausgehen. Die Bilder der Serie „There Is Something I Don’t See“ (2000– 2013) verdanken sich einem Aufenthalt der Fotografin in der Villa Melzi in Vaprio d’Adda, in der Leonardo da Vinci eine Weile lebte. Die Fotografin entdeckte fortan im Alltag frappante Ähnlichkeiten in Gesichtern, die sie doch von Renaissance-Porträts zu kennen glaubte.
Ihre Antwort sind Porträts vor monochromem Hintergrund, die eine Linie fünfhundert Jahre zurück in die Geschichte ziehen, in Arrangement, Pose, Mimik. Monika Faber, vormals Chefkuratorin der Albertina-Fotosammlung, bringt in ihrem Katalogbeitrag Licht ins Dunkel, indem sie etwa das Profilbild einer jungen Frau in Blau mit Schwanenhals rückbindet an die Porträts Antonio del Pollaiuolos aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.
Politische Botschaft inklusive
Bei den zehn Bildern aus der Reihe „Horse“ (2007–2014) gestattet sich Hanzlová überraschend expressive Gesten, gibt dem Effekt Raum mit Nahaufnahmen von Nüstern, ausschlagenden Hinterhufen. Auch scheut sie sich nicht, in den Serien „Forest“ (2000 –2005) und „Water“ (2013–2019) klassische beziehungsweise überstrapazierte Genres anzupacken, Letzteres auch in Form von Wolken oder Eis. Besonders der nächtliche Wald befeuert mit blauschwarzem Restlicht Phantasien oder Urängste. Der Begleittext erläutert die Bilder „als Reise in die Vergangenheit, als Schauplatz der Erinnerung und als Ort des Unbewussten“, die „in subjektiv relevanter und allgemeingültiger Geschichte“ wurzelten.
Mit „Bohdanka“, Vorname einer Frau im Zentrum einer größeren Familie, kehrt Hanzlová 2004 in ihr Heimatdorf zurück. Sie fotografiert dort bis heute Menschen, die sich entschieden haben, nicht als Wirtschaftsmigranten in die Stadt zu ziehen, sondern das kleine Glück auf dem Dorf zu bewahren. In materiell bescheidenen Verhältnissen ein Leben zu leben, das Raum für den Augenblick zulässt. Wir sehen schmutzige Kinder beim Spielen, einen reifen Obstbaum, den Esstisch, einen Topf auf dem Herd, Spuren im Schnee, Sommerwiesen, Pferde und Kühe. Fern des Verdachts, einem trügerischen Idyll zu huldigen, transportieren die Bilder eine politische Botschaft. Sie fragen, worauf es ankommt und welchen Preis Verzicht hat. Haltungsfragen eben.
Jitka Hanzlová „Identities“. Albertina, Wien. Bis 26. Oktober. Der Katalog (Kehrer Verlag) kostet im Museum 32,90 Euro.
Source: faz.net