„Fortschritt und Regression“: Wachstum des „Wir“

Wo man sich heutzutage noch ungeziert „Fortschritt“ uff die Fahnen druckt, da ist Skepsis hoch im Kurs. Vor gut zwei Jahren tat ebendas die Ampelregierung mit ihrem Motto: „Mehr Fortschritt wagen“. Und tatsächlich: Wo ökologische Wende, Respekt und Humanität draufstanden, kamen letzten Endes eigentlich ökologische Untätigkeit, Sparmaßnahmen und Abschiebungshärte raus. Sich qua Fortschrittsbringer zu gerieren, ist schon nicht nur schal geworden, weil die Zeichen jener Zeit überall uff Regression stillstehen. Sondern weil die Fortschrittsidee selbst gebrechlich geworden ist. Insbesondere die postkoloniale Kritik attestiert ihr seit dem Zeitpunkt geraumer Zeit Scheinheiligkeit, weil im Hinterzimmer des westlichen Fortschritts die Plantagen des Globalen Südens lagen. Oder weil die uff den Westen zugeschnittene Modernisierungsidee nichteuropäische Länder im „Wartesaal der Geschichte“ abstellte, wie es jener indische Historiker Dipesh Chakrabarty formuliert hat.

Das ist nun nicht nur ein Problem pro Regierungen, die sich zukunftsbringend spendieren. Sondern gleichfalls pro kritische Gesellschaftstheorien, die ein besseres Morgen anvisieren. In ihrem neuen Buch Fortschritt und Regression hat Rahel Jaeggi, Professorin pro Praktische Philosophie an jener Berliner Humboldt-Universität, somit verschmelzen Rettungsversuch unternommen. Einerseits will sie die Kritik an jener Fortschrittsidee verbissen nehmen, sich eine andere Sache ist daher eines relativistischen Geschichtsblicks widersetzen. Nach wie vor nämlich sei dies Begriffsduo zentral pro „kollektive Selbstverständigung und Handlungsfähigkeit“.

An jener pro viele alternativlos scheinenden Weggabelung zwischen anmaßender Geschichtsphilosophie und Kontextrelativismus findet Jaeggi verschmelzen dritten Weg. Er trägt dies Motto: „Gesellschaften haben kein Ziel, sie lösen Probleme“. Damit wandert die Menschheit weder solide step by step zum Gipfel des Guten, noch irrt sie wahllos in jener Landschaft herum. Vielmehr befindet sie sich in einem „offenen Erfahrungsprozess“. Fortschritt ist so gesehen ein „(dialektisch) sich anreichernder Problemlösungsprozess“. Ein Erfüllungsgehilfe des Guten ist er somit nicht, weil er dies Gute selbst erst hervorbringt.

Wichtig zu wissen: Jaeggi versteht Gesellschaft qua Ensemble von Normen, Praktiken und Institutionen, so wie sie es 2013 in ihrem Buch Kritik jener Lebensformen entwickelt hat. Alles greift hier ineinander, kein Faktor einsam gibt die Richtung vor: weder die reinen Ideen, wie Idealisten behaupten, noch die Wirtschaftswissenschaften, wie orthodoxe Marxistinnen entgegnen. Ändert sich nun ein Teil dieses Gefüges, entstehen „gestörte Passungsverhältnisse“. In diesem Sinne hat etwa jener Buchdruck die feudale Gesellschaft durcheinandergebracht: stand dies zuvor eifrig gehütete Wissen doch uff einmal zumindest den (wenigen) Lesekundigen zur Verfügung.

Ob jener Umgang mit diesen „Problemen“ nun Fortschritt oder Regression heißt, lässt sich nachträglich am „Modus des Lernens“ erkennen. Ist die Gesellschaft in jener Lage, dies Neue „anreichernd“ zu integrieren, in Anlehnung an neue Normen und Institutionen zu schaffen? Im genannten Beispiel hat sich die Entstehung jener Demokratie ein für alle Mal qua fortschrittliche Reaktion erwiesen.

Konsequenterweise versteht Jaeggi Regression dann gleichfalls nicht bloß qua Rückschritt uff einer Linie. Oder qua Konservatismus, jener sich positiv uff die Vergangenheit bezieht. Denn es kann ja gute Gründe spendieren, zu schon verworfenen Praktiken zurückzukehren. Nicht dies „Erhaltenwollen“ ist dies Problem. Sondern dies Unheil „beginnt dort, wo dieses sich vor dem Neuen ›verstockt‹ oder wo es dazu eingesetzt wird, vor der Realität die Augen zu verschließen“. Regression ist eine „Lernblockade“, die oft schon im Fortschritt angelegt ist. So hindert uns etwa jener moderne verdinglichte Naturbezug daran, im Rahmen uff den Klimawandel zu reagieren.

Jaeggis Vorschlag ist klug, ein Gewinn pro all jene, die die Gegenwart wieder zum Nachdenken weiterführend Fortschritt und Regression zwingt. Sie argumentiert präzise, erkennt umsichtig jeden möglichen Einwand im Vorhinein und kaputt ihn. Es ist schon gleichfalls solche widerspruchslose Begriffsarbeit, die den Text zuweilen seltsam körperlos erscheinen lässt: Der fehlende Leib sind die historischen Kämpfe. Man kann Jaeggi nicht vorwerfen, sie vollends auszusparen. An Marx angelehnt, versteht sie solche nämlich qua „aktives“ Element neben den „passiven“ Bedingungen jener sozialen Transformation. Der Buchdruck wäre dann zentrale Vorbedingung pro die Entwicklung jener Demokratie, doch bedurfte es politischer Bewegungen, die die historische Möglichkeit beim Schopfe ergriffen. Und natürlich, so Jaeggi, gibt es Dissens weiterführend die jeweilige Richtung dieser Möglichkeit.

Jedoch lässt ihre seltsam formalistische Rede von „gestörten Passungsverhältnissen“, „Problemlösungen“ und „Lernprozessen“ die Geschichte qua bloßen technischen Wachstumsprozess eines „Wir“ erscheinen und nicht qua unermüdliches Ringen uff unebenem Terrain. Mit Bravour löst Jaeggi somit zwar die Zwickmühle zwischen naivem Universalismus und gefährlichem Relativismus uff. Sie schiebt derbei jedoch irgendwas Zentrales in den Schatten: diejenigen, die unermüdlich den Karren des Fortschritts aus dem Dreck ziehen.

Rahel Jaeggi:  Fortschritt  und  Regression. Suhrkamp, Berlin 2023; 252 Sulfur., 28,– €, qua E-Book 23,99 €

Wo man sich heutzutage noch ungeziert „Fortschritt“ uff die Fahnen druckt, da ist Skepsis hoch im Kurs. Vor gut zwei Jahren tat ebendas die Ampelregierung mit ihrem Motto: „Mehr Fortschritt wagen“. Und tatsächlich: Wo ökologische Wende, Respekt und Humanität draufstanden, kamen letzten Endes eigentlich ökologische Untätigkeit, Sparmaßnahmen und Abschiebungshärte raus. Sich qua Fortschrittsbringer zu gerieren, ist schon nicht nur schal geworden, weil die Zeichen jener Zeit überall uff Regression stillstehen. Sondern weil die Fortschrittsidee selbst gebrechlich geworden ist. Insbesondere die postkoloniale Kritik attestiert ihr seit dem Zeitpunkt geraumer Zeit Scheinheiligkeit, weil im Hinterzimmer des westlichen Fortschritts die Plantagen des Globalen Südens lagen. Oder weil die uff den Westen zugeschnittene Modernisierungsidee nichteuropäische Länder im „Wartesaal der Geschichte“ abstellte, wie es jener indische Historiker Dipesh Chakrabarty formuliert hat.

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