Forscher zu Stadtbild-Debatte: „Merz’ Rhetorik kann den Weg zu Händen rassistische Gewalt ebnen“

Während hierzulande die Aussagen von Kanzler Merz zum „Stadtbild“ diskutiert werden, gelingt es Rechten, in immer mehr Orten ihren Einfluss auszubauen. Mit den zugrunde liegenden Prozessen haben sich die Forscher*innen Viktoria Kamuf, Valentin Domann und Johann Braun beschäftigt, die jüngst das Buch Das Ende rechter Räume. Zur Territorialisierung der radikalen Rechten veröffentlicht haben. Der Freitag sprach mit ihnen über rechte Hegemonie, den vermeintlich „blauen Osten“ und emanzipatorische Gegenstrategien.

der Freitag: Friedrich Merz sorgt sich um das „Stadtbild“. Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit der Entstehung von politischen Räumen. Wie bewerten Sie die Aussagen des Kanzlers?

Viktoria Kamuf: Friedrich Merz hat verschiedene große Begriffe miteinander verknüpft: Migration, Stadtbild und Abschiebungen. Daraus entsteht eine rassistische Assoziation, da Migration als Problem dargestellt wird, das sich im Stadtbild zeigen würde. Merz verwendete das „Stadtbild“ als Code, um subtiler rassistische Aussagen aussprechen zu können. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Merz so äußert. Es gab diese Aussage: „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland“. Der Kanzler will anhand verschiedener Räume bestimmen, was deutsch ist und was nicht, wer dazu gehört und wer nicht. Das ist nicht nur ein Angriff auf eine bestimmte Gruppe an Migrant*innen, sondern auch auf unsere postmigrantische Gesellschaft, die sich durch Pluralität auszeichnet. Merz markiert Vielfalt an sich als Feindbild.

Valentin Domann: In der Aussage von Merz ging es ja um die konkret etwas mehr als 40.000 „unmittelbar Ausreisepflichtigen“, die verteilt auf die rund 11.000 Kommunen hierzulande rein gar nichts am Stadtbild ändern. Daher ist die Aussage auch so gefährlich, weil sie so deutungsoffen ist. Sie liefert einen Interpretations- und Resonanzraum, in dem sich rechtsradikale Gedanken ausbreiten können. Damit trägt Merz auch zu deren Normalisierung bei.

Johann Braun: Zudem ruft Merz eine Polarisierung zwischen Untergang und Rettung auf, die man bislang aus rechtsextremen Debatten um Stadt kennt. Er betrauert das Verschwinden eines eigentlichen Stadtbilds, die Abschiebung liefert er als Rettung gleich hinterher. Dieses Muster findet sich quer durch rechte oder radikalisiert konservative Stadtpolitiken. Es zeigt sich in ordnungspolitischen Debatten um „Clan-Kriminalität“, aber auch in kulturpessimistischen Klagen zum Niedergang von Architektur und Städtebau. Dort wird dann die „Betonmoderne“ gegen das liebevoll und traditionell gestaltete Stadtviertel gestellt.

Sie haben sich als Autor*innen mit rechter Raumnahme beschäftigt. Inwiefern wird diese durch Merz’ Aussagen befeuert?

Viktoria Kamuf: Rechte Raumnahme wird häufig darauf verkürzt, dass Rechte irgendwo eine Siedlung gründen oder eine Immobilie kaufen. Doch rechte Raumnahmen beginnen schon auf der Ebene von Diskursen, Vorstellungen und Gefühlen. Das heißt, Merz’ Aussage stellt eine Raumvorstellung dar, die in einen breiteren Diskurs eingebettet ist – und der wird auch durch die radikale Rechte geprägt.

Was führt noch zur Entstehung von rechten Räumen?

Valentin Domann: Räume sind ja nicht einfach nur da, sie sind nicht per se rechts oder links. Sie sind das Ergebnis von politischen Prozessen. Das wollen wir mit unserem Begriff der Territorialisierung deutlich machen. Wir unterscheiden vier Dimensionen. Zunächst geht es um die performative Art und Weise, wie Raum von Seiten der radikalen Rechten durch körperliche Präsenz produziert wird: Demonstrationen, das Stören von Veranstaltungen oder physische Straßengewalt, wie wir sie aus den „Baseballschläger-Jahren“ kennen, gehören dazu. Die zweite Ebene bezeichnen wir als „imaginative Territorialisierung“. Die Stadtbild-Aussage von Merz erschafft etwa eine Vorstellungswelt, die sich wiederum in konkrete Handlungen übersetzen lassen kann. Wenn Menschen das Gefühl haben, Migration sei ein Problem, gegen das man aktiv werden müsse, fühlen sie sich nun sogar durch den Bundeskanzler bestätigt. Dies kann den Weg in ganz konkrete rassistische Gewalt ebnen.

Wenn Menschen das Gefühl haben, Migration sei ein Problem, gegen das man aktiv werden müsse, fühlen sie sich nun sogar durch den Bundeskanzler bestätigt

Hinzu kommt die affektive Ebene, durch die Gemeinschaft produziert wird, auf Veranstaltungen oder bei Bürgerdialogen, wenn radikale Rechte etwa Gefühle wie Wut oder Ortsverbundenheit gegen Lokalpolitiker*innen mobilisieren. Schlussendlich gibt es die infrastrukturelle Dimension. Sie betrachtet etwa politisierte Debatten um erneuerbare Energien oder die Schaffung eigener, rechter Infrastrukturen.

Wie zeigt sich das ganz konkret?

Viktoria Kamuf: Im Buch besprechen wir etwa den rechtsradikalen Anschlag von Hanau, bei dem 2020 neun Menschen ermordet wurden. Der Täter hat sich in seiner rassistischen Ideologie die Tatorte gezielt ausgewählt, aufgrund der Markierung dieser Räume und der Menschen in ihnen als migrantisch, aber auch „kriminell“, „fremd“ oder „gefährlich“. Hier verbinden sich rassistische Raumvorstellungen und ein emotional aufgeladener Sicherheitsdiskurs mit ganz konkreter, tödlicher Gewalt.

Valentin Domann: Ein weiteres, vielleicht ungewöhnliches Beispiel sind die rund 9.000 Deutschen, die um den ungarischen Plattensee wohnen. Die Gründe, dorthin zu ziehen, sind vielfältig, doch seit rund zehn Jahren sehen wir eine zunehmende Politisierung in Teilen dieser Auswanderer-Gruppe. Der Schweizer Rechtsextremist Ignaz Bearth hat dort die „Deutschsprachige Gemeinschaft Ungarn“ gegründet, deren Telegram-Kanal rund 10.000 Mitglieder hat. Dort kann man gut erkennen, was rechte Territorialisierung meint.

Der Schweizer Rechtsextremist Ignaz Bearth hat die ‚Deutschsprachige Gemeinschaft Ungarn‘ gegründet – dort kann man gut erkennen, was rechte Territorialisierung meint

Es geht sowohl um praktische Tipps für Auswanderer*innen zu Versicherungen oder Zahnarztversorgungen, aber es gibt auch immer wieder positive Bezüge auf die gewaltvolle Migrationspolitik Viktor Orbáns. Teilweise sind es aber auch verschwörungstheoretische oder offene antisemitische Artikel, die auch immer wieder gegen „die Stadt“ hetzen: zu unsicher, zu migrantisch, überfremdet. Zudem hilft die „Gemeinschaft“ ganz gezielt beim Immobilienkauf oder kooperiert mit einer Reichsbürgersiedlung in der ungarischen Kleinstadt Marcali und spielt die Bilder glücklicher Rentner*innen in der Diaspora zurück in deutschsprachige Medien. Hier kommen somit viele Dimensionen rechter Raumproduktionen zusammen.

Gibt es bei der rechten Raumnahme Unterschiede zwischen Stadt und Land?

Johann Braun: Stadt und Land werden häufig als Gegensatz dargestellt: Die Stadt wäre weltgewandter und das Land rückständig. Es gibt dafür auch durchaus Anzeichen: Die Grünen und die Linken zum Beispiel sind nahezu komplett großstädtische Parteien. Das liegt aber nicht in erster Linie am Siedlungstyp, sondern an den jeweiligen Verhältnissen vor Ort. Betrachtet man sie, löst sich der Stadt-Land-Gegensatz schnell auf, und damit auch die These, die AfD würde eher auf dem „platten Land“ gewählt. Sehen wir uns die Wahlergebnisse genauer an, gibt es Städte oder Stadtteile, in denen die AfD sehr stark ist, während sie in anderen Dörfern kaum existiert. Wir müssen uns also um die konkreten Bedingungen vor Ort kümmern: Auch auf dem Land gibt es massive Miet- und Kostensteigerungen. Es gibt ländliche Regionen mit krassem Strukturwandel in der Landwirtschaft, und Prozessen der Deindustrialisierung sowie Stadtteile, die von kommunaler Austerität geplagt sind. All dies hat deutlich eher Einfluss auf rechte Erfolge als die zu allgemeinen Kategorien Stadt oder Land.

Begriffe wie der „blaue Osten“ sind demnach eine Pauschalisierung?

Johann Braun: Ja, der Begriff ist unsinnig. So ist auch der Westen eine postnazistische Gesellschaft. Gleichzeitig muss man die überdurchschnittlich hohen AfD-Wahlergebnisse im Osten erklären. Aber auch hier sind es wieder die sozialen Verhältnisse: Man müsste etwa nach den massiven öffentlichen und privaten Transformationserfahrungen nach 1990 fragen.

Viktoria Kamuf: Das ist unser zentraler Punkt: Wir warnen vor Pauschalisierungen. Stadt und Land beziehungsweise Ost und West sind keine abgeschlossenen Räume, sondern verbunden. Wir müssen stets diese Wechselwirkung und die konkreten Bedingungen vor Ort betrachten, anstatt Schreckgespenster zu malen, die unsere Handlungsfähigkeit lähmen. Der Osten ist nicht „blau“ und es gibt sehr viel progressives, zivilgesellschaftliches Engagement. Gleichzeitig können antifaschistische Kämpfe nur noch unter sehr hohen Schwierigkeiten geführt werden und die AfD ist teilweise sehr stark in Kommunalparlamenten vertreten.

Ihre These lautet: Räume bleiben stets umkämpft. Welche Rolle spielen dabei emanzipatorische Initiativen?

Viktoria Kamuf: Jeder Raum, der sich ganz klar für Menschenrechte und gegen die radikale Rechte positioniert, ist ein Erfolg – egal wo. Solche Orte sind Zeichen für eine plurale Gesellschaft, in dem Sinn, dass alle Menschen grundlegend anerkannt werden. Ich lebe in Thüringen und hier befinden sich Unterkünfte für Geflüchtete meist in sehr ländlichen Regionen. Es bedarf also wahnsinniger Anstrengungen von vielen Engagierten, um diese Menschen zu unterstützen. Gleichzeitig werden sie immer wieder von rechts attackiert. Daher hat sich zum Beispiel die Initiative Polylux zur Förderung von zivilgesellschaftlichen Strukturen, die von rechts bedroht sind, gegründet.

Valentin Domann: Ein entscheidender Faktor ist allerdings auch, wie sich andere gesellschaftliche Akteure verhalten: Ermöglichen oder verhindern sie rechte Gedanken und Handlungen? Die Kommunalpolitik, Stadtverwaltungen, aber auch Akteure wie Kirchen oder Gewerkschaften spielen hier eine wichtige Rolle. Sie können sich auf die Seite von antifaschistischen und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen stellen oder eher AfD-Sprech verbreiten.

Johnann Braun: Daneben ist aber auch die institutionelle Unterstützung wichtig. Fördermaßnahmen wie das Bundesprogramm „Demokratie Leben“ oder Programme zur Stadt- und Regionalentwicklung stehen gerade massiv von rechts unter Druck.

Viktoria Kamuf: Eine langfristige Förderung zivilgesellschaftlicher Akteure finde ich auch unterstützenswert. Gleichzeitig fällt gerade im Kontext von rechter und rassistischer Gewalt häufig der Satz: „Man kann sich auf den Staat nicht verlassen.“ Daher ist es umso wichtiger, sich unabhängig von staatlichen Strukturen zu organisieren, Räume aufzubauen und sich zwischen diesen Orten zu vernetzen.

Viktoria Kamuf ist Soziologin. Valentin Domann und Johann Braun sind Humangeographen. Alle drei gehören zum Autor*innenkollektiv Terra-R und forschen zur Mobilisierung der Wohnungsfrage von Rechts. Jüngst veröffentlichten sie Das Ende rechter Räume. Zu Territorialisierungen der radikalen Rechten (Verlag Westfälisches Dampfboot, 288 Seiten, 30 Euro).

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