Forderung nachdem Reformen: Ist es an dieser Zeit, den Bundesrat abzuschaffen?

Hatten die Bayern doch recht? Am 20. Mai 1949 stimmte der Bayerische Landtag mit 101 zu 64 Stimmen bei einer Enthaltung gegen die Annahme des Grundgesetzes; in allen anderen westdeutschen Bundesländern fand sich eine zustimmende Mehrheit. Die Parlamentarier kritisierten den „säkularisierten Geist“, durch den der Verfassungsentwurf geprägt sei, vor allem aber befürchteten sie die Dominanz des Bundes gegenüber den Ländern. „Die Länder sind nicht die Kinder des Bundes, sondern der Bund ist das Gebilde der Länder“, gab der CSU-Abgeordnete Carljörg Lacherbauer zu Protokoll.

Das Grundgesetz trat trotzdem in Kraft, auch der Bayerische Landtag ratifizierte das Dokument. Seitdem wird auf diese Episode bayerischer Widerständigkeit vor allem in scherzhafter Absicht hingewiesen oder um aktuelle Eigenwilligkeiten der CSU historisch zu erhellen. Denn, so heißt es dann oft, föderal ist die Bundesrepublik ja bis heute geblieben.

Die „gewaltenhemmende Funktion“ des Föderalismus

Dass die bayerischen Befürchtungen 1949 völlig zutreffend gewesen sein könnten, hat jetzt der Direktor des Schleswig-Holsteinischen Landtags in seltener Nord-Süd-Solidarität bekundet. In einem Vortrag bei der Carl-Friedrich von-Siemens-Stiftung in München argumentierte Utz Schliesky, der zugleich Öffentliches Recht in Kiel lehrt, dass die Bundesrepublik nach wie vor ein föderaler Staat sei – doch nur, was die Regierungen der Länder betreffe. Die Parlamente der Länder dagegen hätten seit 1949 einen erheblichen Bedeutungsverlust erlitten, sodass sie die Aufgabe regionaler Repräsentation kaum noch erfüllen könnten. Ja, eigentlich stehe sogar die Staatlichkeit der Länder insgesamt in Frage.

Rief bei der Münchner Siemens-Stiftung zur großen Staatsreform auf: Der Jurist und Direktor des Schleswig-Holsteinischen Landtages Utz Schliesky.picture alliance/dpa

Schon im Mittelalter, legte Schliesky einleitend dar, traten die Stände, aus deren Versammlungen sich die Landtage entwickelten, als Verteidiger der Freiheiten auf, wobei der Plural wichtig ist: Vor den bürgerlichen Revolutionen war „Freiheit“ kein Gleichheit implizierender Begriff, sondern, ganz im Gegenteil, mit den unterschiedlichen Rechten von Bau­ern und Zünften, Kirche und Adel verknüpft. Im Lauf der Jahrhunderte erhielten die Landtage Mitwirkungsrechte an der Gesetzgebung, erkämpften sich das Steuerbewilligungs- und Budgetrecht, im Tausch gegen die Finanzierung fürstlicher Regierungstätigkeit. Ihre „gewaltenhemmende“ Funktion und die Aufgabe, „das Landesvolk zu repräsentieren“, seien mithin älter als der moderne Grundrechts- und Demokratiegedanke.

Die Bundesrepublik sei dieser uralten deutschen Föderaltradition gefolgt, allerdings nur auf den ersten Blick. Die exklusive Gesetzgebungskompetenz des Bundes in wichtigen Politikfeldern beschränke die Landesautonomie, aber vor allem die quantitativ stark gewachsene Gesetzgebungsaktivität auf Bundes- und noch mehr auf EU-Ebene zwinge die Länder in die Position ausführender Organe. In der EU behandle man Abgeordnete der Landtage wie Lobbyisten ihrer Regionen.

Die Schuldenbremse war ein Sündenfall

Noch gravierender seien aber die Wirkungen der Finanzverfassung des Grundgesetzes. Zwar stehen den Ländern die Einnahmen aus der Grundsteuer und der Erbschaftsteuer exklusiv zu, über die Höhe der weit wichtigeren Einkommens- und Umsatzsteuern entscheidet aber maßgeblich der Bund. Nicht selten ziehen Bundesregierungen landeseigene Kompetenzen an sich, indem sie den Ländern finanzielle Kompensationen versprechen. Wirklich Souverän ist offenbar nur, wer über Budgethoheit verfügt.

Auf Augenhöhe mit den Abgeordneten: Die Regierungsbank im Hessischen Landtag.Frank Röth

Die Verfassungsänderungen in Sachen Schuldenbremse nehmen sich wie Radikalisierungen dieses finanzverfassungsrechtlichen Bundesimperialismus aus. Pointiert wies Schliesky darauf hin, dass schon die Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2009 – hervorgegangen aus einer missglückten Föderalismusreform – die Länder völlig von kreditärer Selbstfinanzierung abschnitt, überwiegend lange bevor die Landesparlamente eigene Landesverfassungsänderungen angestrengt hätten.

Der „zweite Sündenfall“ sei dann die jüngste Aufweichung der Schuldenbremse gewesen, wobei der Bundestag ohne Weiteres die eingeführten Schuldenbremsen in den Verfassungen der Ländern ausgehebelt habe. Zustimmung erhielt Schliesky aus dem Münchner Publikum auch für die Aussage, die „Bewertung dieses Vorgangs als Staatsstreich“ sei insofern nicht verfehlt, als man es mit einer völlig einseitigen, wahrscheinlich auch verfassungswidrigen Selbstermächtigung des Bundes zu tun habe. Der ehemalige Verfassungsrichter Peter Michael Huber, der Moderator des Vortragsabends, hatte diese Bewertung in einem Interview mit der F.A.Z. vorgenommen.

Warum der Bundesrat abgeschafft werden sollte

Das Problem werde dadurch verstärkt, sagte Schliesky, dass die Landtagsabgeordneten vom Gebrauch des schärfsten Schwertes des bundesdeutschen Gewaltenkampfs ausgeschlossen seien: der Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Nur der Bundesrat oder die Landesregierungen treten als Gegner der Bundesregierung oder des Bundestages auf. Damit kam der Jurist auf den wohl pikantesten Punkt des Vortrags zu sprechen: den Bundesrat. In Lehrbüchern als Verteidiger des Föderalismus und der „vertikalen Gewaltenteilung“ auf­gerufen, erweise sich das Bundesorgan als „schlechter Sachwalter des Landesparlamen­tarismus“. Vertreten seien dort eben die Landesregierungen, nicht die Landtagsabgeordneten. Und die Regierungen, siehe Finanzverfassung, lassen sich ihre Kompetenzen abkaufen – wenn sie Parteipolitik nicht sowieso dem Regionalinteresse vorordneten.

Was also tun? Der frühere Ministerialbeamte Schliesky hatte erfrischenderweise kein Problem damit, seinen Namen mit der Forderung nach einer Abschaffung des Bundesrates verbunden zu sehen. Die noch in der bismarckschen Reichsverfassung wurzelnde Institution sei eine Fehlkonstruktion. Ersetzen müsse man den Bundesrat durch eine echte zweite Kammer, die zeitgleich mit den Landtagen gewählt werde und als parlamentarische Vertretung der Landesvölker fungieren solle. Im Zuge einer „großen Staatsreform“ müsse gleichzeitig die Gesetzgebungskompetenz sowie die Budget- und Steuerhoheit der Länder ausgeweitet werden. Es sei „an der Zeit, die Geburtsfehler des Grundgesetzes zu korrigieren“.

Schliesky äußerte aber selbst Zweifel am „Willen zur Autonomie“ bei den Abgeordneten. Es gebe immer weniger „echte Parlamentarier“, viele hätten ein „behördliches Selbstverständnis“ entwickelt, wollten am liebsten die Kontrollaufgaben eines Mandatsträgers an Mitarbeiter auslagern. Um den utopischen Charakter seines Vortrages zu mildern, schob Schliesky Ansatzpunkte für eine kleine Staatsreform hinterher: die Petitionsausschüsse müssten selbstbewusster werden, „Landtagsmobile“, mit denen Abgeordnete zu den Bürgern fahren, hätten sich als zukunftsträchtig erwiesen. Von der Abschaffung des Bundesrats zur Bürgersafari – das war dann doch ein großer Bogen.

Sind die politischen Konflikte noch regionaler Natur?

Interessanter wäre es gewesen, der Frage nachzugehen, wieso der Landesparlamentarismus verkümmert. Was ist die Aufgabe der im Untertitel des Vortrags benannten „regionalen Repräsentation“? Wieso nimmt sie kaum jemand noch wahr? Es schien manchmal so, als hänge Schliesky gleich zwei idealistischen Vorurteilen an. Nämlich erstens, dass geographische Bürgernähe automatisch legitime Politik hervorbringe (von der Wiederbelebung des Landesparlamentarismus verspricht er sich sogar einen Beitrag zur „Krisenbewältigung“) und zweitens, dass der Parlamentarismus die Orientierung am Gemeinwohl zurückbringen könnte. Eine „Zurückdrängung der leidigen Parteienherr­schaft“ sei nötig, hieß es im Vortrag. Denn auch die Parteien seien ja zumeist Bundesorganisationen und träfen politische Richtungsentscheidungen jenseits der Fraktions- und Plenarsäle.

Diese Klage ist nicht neu. Sie begleitet das deutsche Bürgertum seit dem neunzehnten Jahrhundert; der Überlebensfähigkeit der Weimarer Republik war sie eher abträglich, was nicht verhinderte, dass sie auch seit Gründung der Bundesrepublik alle paar Jahre Konjunktur hat. Unausgeführt zu lassen, dass es gute historisch-soziologische Gründe dafür gibt, dass die Parteien das moderne politische Leben so sehr bestimmen wie kaum eine andere Organisation, ist für einen Juristen vielleicht verzeihlich, kaum aber für den Autor einer Biographie über Lorenz von Stein. Dieser entdeckte schon in den Vierzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts, dass die Bewegungskräfte der bürgerlichen Gesellschaft soziale Konflikte hervorbringen, die politischen und das heißt parteiischen Ausdruck suchen.

Der Honoratioren-Parlamentarismus, bei dem nur ihrem Gewissen statt ihrer Partei verpflichtete Mandatsträger als „Vertreter des ganzen Volkes“ um das allgemeine Beste ringen, gehört den Fiktionen einer vergangenen Epoche an. Was „Gemeinwohl“ ist, ist notorisch umstritten – und das nicht nur im Sinne einer Meinungsverschiedenheit, die sich im Plenarsaal klären ließe. Dass der Landesparlamentarismus an Kraft verloren hat, könnte auch daran liegen, dass die sozialen Konflikte hinter dem Streit um das Gemeinwohl kaum noch regionale Konflikte sind. „Landesrepräsentation“ wäre dann ein Anachronismus. Dieser Frage sollte man sich jedenfalls widmen, bevor man – wohl zwangsläufig über die Bundespolitik – eine „große Staatsreform“ anstrengt, die dem Bundesrat ein Ende setzt.

Source: faz.net