Flüchtlingsgipfel: „Geld löst nicht mehr alle Probleme“

Beim Flüchtlingsgipfel der Bundesregierung drängen die Länder und Kommunen auf neue Hilfen, um Flüchtlinge und Asylsuchende unterzubringen. Vor dem Treffen am Donnerstagvormittag erklärt Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschang (CDU) im Interview, dass praktische Unterstützung für die Länder dringlicher sei als finanzielle Hilfen. Im Interview mit ZEIT ONLINE fordert sie Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auf, Migration nach Deutschland besser zu steuern.

ZEIT ONLINE: Frau
Zieschang, viele Kommunen und Länder beklagen, dass sie mit dem Zuzug von
Kriegsflüchtlingen und Asylbewerbern überlastet sind. Wie ist die Lage in
Sachsen-Anhalt?

Tamara Zieschang: Die Lage
in Sachsen-Anhalt ist sehr angespannt, sowohl in den Erstaufnahmeeinrichtungen
des Landes als auch in den Kommunen. 2022 haben wir 29.000 Kriegsflüchtlingen
aus der Ukraine ein Dach über dem Kopf geben
können, zugleich kamen fast 6.000
Asylbewerber. Deren Zahl hat sich damit im Vergleich zu den Vorjahren fast verdoppelt.
Die zusätzlich aufgenommenen afghanischen Ortskräfte sind da noch gar nicht
eingerechnet. 

ZEIT ONLINE: Was ist
das drängendste Problem?

Zieschang:  Die Kommunen kommen nun an ihre Grenzen, denn
die Kapazitäten auf dem privaten Wohnungsmarkt sind weitgehend ausgeschöpft.
Deswegen müssen wir beim Migrationsgipfel der Bundesregierung klarmachen: Geld
löst nicht mehr alle Probleme. Ich kann mit Geld keine Handwerker beauftragen,
die ich brauche, um neue Wohnungen bezugsfertig zu machen, wenn es keine frei
verfügbaren mehr gibt. Und ich kann auch nicht mit noch so viel Geld
Integrationslotsen oder Sozialbetreuer beschäftigen, wenn ich keine mehr auf
dem Arbeitsmarkt bekomme. Entscheidend ist deswegen, dass wir irreguläre
Migration begrenzen und die legale Migration besser steuern. Nur so
können wir die Unterbringungssituation in den Kommunen nachhaltig entspannen.

ZEIT ONLINE: Wie voll
sind die Unterkünfte?

Zieschang: Unsere
Landeserstaufnahmen waren zuletzt teilweise bis zu 95 Prozent ausgelastet,
derzeit sind wir wieder etwas unter 90 Prozent und können damit vor einer
Neubelegung auch wieder Reparaturen vornehmen. So oder so gilt, dass wir
Aufnahmen zu keinem Zeitpunkt einstellen können, weil wir gesetzlich
verpflichtet sind, die Menschen unterzubringen. Die Frage ist nur, ob das noch
zu menschenwürdigen Bedingungen erfolgt. Derzeit müssen wir nur in einer Stadt
auf eine Turnhalle zurückgreifen. Das heißt, noch schaffen wir das. Wenn die Zugangszahlen
in diesem und im nächsten Jahr so hoch bleiben, werden wir auf Notunterkünfte
zurückgreifen müssen. Und vor allem bleibt dann auch die Integration auf der
Strecke.

ZEIT ONLINE: Der Bund
behauptet, Ihrem Bundesland Liegenschaften mit einer Kapazität von 1.440
Plätzen zur Verfügung gestellt zu haben, doch davon seien null Prozent belegt.
Wie kann das sein?

Zieschang: Das
stimmt einfach nicht. Wir haben schon an das Bundesinnenministerium geschrieben
und um Richtigstellung gebeten. 2016 hat der Bund Sachsen-Anhalt 440
Unterbringungsplätze in Halberstadt zur Verfügung gestellt, die seitdem ohne
Unterbrechung und vor allem im letzten Jahr und auch jetzt in permanenter
Nutzung und Auslastung waren und sind. Die weiteren 1.000 Plätze beziehen sich
auf eine frühere Kaserne in Stendal, die wir 2016 übernommen haben und die
grundlegend baulich hergerichtet werden muss. Daher ist dort auch nichts zu
beziehen, denn die Kaserne ist derzeit noch eine Baustelle und das wird sich
auch kurzfristig nicht ändern. Das ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, dass
vom Bund angebotene Liegenschaften in der Regel nicht kurzfristig, sondern erst
nach erheblichen Baumaßnahmen nutzbar sind. Beim vorigen Flüchtlingsgipfel Ende
Oktober ist Sachsen-Anhalt übrigens keine einzige Liegenschaft angeboten
worden.

ZEIT ONLINE: Haben Sie
den Eindruck, dass die Bundesinnenministerin Nancy Faeser die Probleme der
Kommunen vernachlässigt hat?

Zieschang: Die
Aufgabe des Bundes ist, illegale Migration zu begrenzen und legale Migration zu
steuern. Auf beiden Feldern hat das Bundesinnenministerium unter Frau Faeser zu
wenig unternommen. Es ist überfällig, die Gespräche in Brüssel voranzubringen.
Von dort kamen durchaus positive Impulse: etwa sogenannte Grenzverfahren für
Asylbewerber nach dem Muster unserer Flughafenverfahren, eine
Aufenthaltspflicht im zuständigen Mitgliedstaat während des Asylverfahrens.
Zudem müssen ausreisepflichtige Ausländer endlich konsequent zurückgeführt
werden. All diese Themen müsste das Bundesinnenministerium viel stärker
voranbringen.

ZEIT ONLINE: Wie soll
das konkret passieren?

Zieschang: Ich bin
froh, dass Bundeskanzler Olaf Scholz sich beim Europäischen Rat in der letzten
Woche zum sogenannten Visahebel bekannt hat – der besagt, dass unkooperative
Herkunftsstaaten, die ihre Bürger nicht zurücknehmen, für ihre Reisenden keine beziehungsweise
nur noch sehr eingeschränkt Visa nach Deutschland bekommen. Frau Faeser hatte
noch kurz zuvor erklärt, dass sie diesen Visahebel kritisch sieht. Dabei ist
der Visahebel sehr wirksam, um Herkunftsstaaten zur Kooperation bei
Rückführungen zu bewegen. Bei Frau Faeser fehlen der Nachdruck und die
Bereitschaft, auch die umstritteneren Themen der Migration anzugehen. Dazu
gehört der Schutz der EU-Außengrenze: Wer ungehinderte Reisefreiheit in der EU
will, der muss die Außengrenzen wirksam schützen. Frau Faeser schreckt davor
zurück.

ZEIT ONLINE: Das
europäische Asyl- und Migrationsrecht zu reformieren, ist ein langwieriger
Prozess. Eine schnelle Senkung der Flüchtlingszahlen dürfte dadurch kaum zu
erreichen sein.

Zieschang: Das sehe
ich anders. Wenn Deutschland es mit Rückführungen wirklich ernst meint und
zügig praktikable Rücknahmeabkommen schließt, wird das Wirkung zeigen. Wir
sehen das etwa daran, dass freiwillige Ausreisen in dem Augenblick deutlich zunehmen,
in dem Abschiebungen in das jeweilige Herkunftsland gelingen. Das heißt übrigens auch, dass der
Bundeskanzler nicht wie im letzten Jahr nach West-Afrika fahren kann und dort
nur über Wirtschaftsbeziehungen redet, aber kein Wort über die mangelnde
Bereitschaft der dortigen Länder verliert, abgelehnte Asylbewerber auch wieder
zurückzunehmen.

ZEIT ONLINE: Was
erwarten Sie ganz konkret vom Flüchtlingsgipfel im Bundesinnenministerium?

Zieschang: Auf dem
Gipfel muss klar werden: Der Bund darf Länder und Kommunen nicht einfach nur
mit Geld ruhigstellen, sondern muss neben der erforderlichen finanziellen
Unterstützung vor allem auch illegale und ungesteuerte Migration nachhaltig
unterbinden, um die Kommunen dauerhaft zu entlasten. Hinzu kommt: Der Bund sollte
eine Asylsonderlage erklären, um die Vergabe von Aufträgen zu beschleunigen.

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