Die Affäre, in die Otto Graf Lambsdorff geraten war, begann noch vor seinem Antritt als Bundeswirtschaftsminister 1977. Es ging um den Flick-Konzern, ein Unternehmen der Montanindustrie, das im Rüstungsgeschäft groß geworden war, Hitler gefördert hatte und deren Firmengründer als Kriegsverbrecher verurteilt wurde. 1975 hatte die Firma Aktien der Daimler-Benz AG für 1,9 Milliarden DM an die Deutsche Bank verkauft. Sie beantragte beim Bundeswirtschaftsministerium für den Erlös Steuerbefreiung nach Paragraf 6b des Einkommensteuergesetzes, da die Summe für „volkswirtschaftlich förderungswürdige Re-Investitionen“ verwandt werden sollte. Der zuständige Minister Hans Friderichs und dessen Nachfolger Graf Lambsdorff, beide FDP, erteilten die Genehmigung. Die Steuerersparnis betrug knapp 986 Millionen DM.
Friderichs und Lambsdorff folgten ihren marktliberalen Überzeugungen: Kapital müsse beweglich sein, um dort eingesetzt werden zu können, wo es den größten Nutzen – messbar im Gewinn – erzielt. Bleibt es in einem Portfolio fixiert, kann das zu Stagnation beitragen. Die Transaktionen unter Nutzung einer gesetzlichen Bestimmung gehörten insofern nicht ins historische Sündenregister von Flick. Anders stand es mit der „Soverdia“, der Societas Verbi Divini, Gesellschaft für Gemeinwohl mbH, die von den katholischen Steyler Missionaren im nordrhein-westfälischen Kaldenkirchen unterhalten wurde. Sie betätigte sich als Geldwaschanlage. Für Spenden gab es von ihr Bescheinigungen in fünffacher Höhe der tatsächlich erbrachten Summe, die dann beim Finanzamt eingereicht wurden. Partner waren nicht zuletzt Mittelständler, etwa Ärzte und Kaufleute. 1978 kam der Regierungsdirektor Klaus Förster, Leiter der Steuerfahndung beim Finanzamt Sankt Augustin, auf diese Spur. Er entdeckte, dass es auch einen Großkunden gab. Der Flick-Konzern hatte seit einem Jahrzehnt 12,3 Millionen DM gespendet, von denen ihm etwa fünf Millionen als Steuerbefreiung rückerstattet wurden. Pater Josef Schröder, Geschäftsführer von Soverdia, leitete das Geld auf Schweizer Konten, hob es dort ab und brachte davon circa 9,3 Millionen Mark in bar zurück – nach Düsseldorf in die Konzernzentrale von Flick. Addiert man noch die fünf Millionen Erstattung vom Finanzamt, entstand ein Plus über die ursprünglichen 12,3 Millionen hinaus. Jedoch landete der zurückgebrachte Betrag nicht mehr in den Geschäftsbüchern des Unternehmens, sondern in einer schwarzen Kasse. Über die verfügte Eberhard von Brauchitsch, geschäftsführender Gesellschafter des Konzerns. Von dem nach Düsseldorf spedierten Geld erhielt Soverdia zehn Prozent für den Steyler Orden, weitere zehn wurden dem CDU-Bundestagsabgeordneten Walter Löhr, der den Deal vermittelt hatte, für seine Partei in bar übergeben.
Der Hauptbuchhalter des Flickkonzerns hieß Rudolf Diehl. Unter dem Verdacht, seinen persönlichen Steuerverpflichtungen nicht korrekt nachgekommen zu sein, war gegen ihn ermittelt worden. Am 4. November 1981 stießen Fahnder bei einer Durchsuchung der Konzernzentrale auf ein Kassenbuch, in das Diehl seit 1972 Zahlungen eingetragen hatte, die ab 1969 an Brauchitsch gingen, damit er sie an führende Politiker aller damals im Bundestag vertretenen Parteien weiterleitete: 750.000 DM für Franz Josef Strauß (CSU), 565.000 für Helmut Kohl (CDU), mehrere Raten à 30.000 an Otto Graf Lambsdorff, jeweils 70.000 an Hans Friderichs, 100.000 für Walter Scheel (alle FDP) sowie 40.000 für den Finanzminister Hans Matthöfer (SPD). Brauchitsch bezeichnete dies als „Pflege der politischen Landschaft“.
Die Vorgesetzten von Klaus Förster versuchten, den Steuerfahnder von der Aufdeckung der Angelegenheit abzubringen. Als er weiter ermittelte, wurde er an das Finanzamt Köln versetzt. Er klagte dagegen und wurde von dem Rechtsanwalt Otto Schily vertreten. Im Herbst 1982 berichteten die Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, stern und Spiegel über den Verdacht gegen Flick. Damit nahm der Skandal seinen Lauf. Der Landtag von NRW berief einen Untersuchungsausschuss. Am 6. März 1983 zogen die Grünen in den Bundestag ein und damit die einzige Partei ohne Belastung durch die Flick-Affäre. Otto Schily gehörte zu ihren Abgeordneten. Am 29. November 1983 kündigte die Bonner Staatsanwaltschaft an, Anklage unter anderem gegen Eberhard von Brauchitsch wegen Bestechung sowie gegen Hans Friderichs und Otto Graf Lambsdorff wegen Bestechlichkeit zu erheben. Der Bundestag hob Lambsdorffs Immunität auf, der dann, als die Anklage zugelassen wurde, am 27. Juni 1984 zurücktrat. Danach richtete auch der Bundestag einen Untersuchungsausschuss ein, in dem Otto Schily besonders öffentlichkeitswirksam auftrat.
Am 16. Februar 1987 – nach einem Prozess von eineinhalb Jahren – wurden Brauchitsch, Friderichs und Lambsdorff von der Anklage der Bestechung beziehungsweise der Bestechlichkeit freigesprochen. Ein Nachweis über einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Zahlungen und konkreten Amtshandlungen konnte nicht erbracht werden, wohl aber darüber, dass Geld geflossen und nicht versteuert worden war. Hierüber ergingen Urteile. Eberhard von Brauchitsch erhielt wegen Steuerhinterziehung und Beihilfe zur Steuerhinterziehung zwei Jahre Gefängnis. Die Strafe wurde gegen eine Geldbuße von 550.000 DM zur Bewährung ausgesetzt. Hans Friderichs wurde der Steuerhinterziehung schuldig befunden und musste 61.500 DM zahlen. Die Geldstrafe für Graf Lambsdorff wegen desselben Delikts betrug 180.000 DM. Das Bundeswirtschaftsministerium zahlte ihm 550.000 Mark für seine Anwaltskosten.
Graf Lambsdorff fand, dass er damit leben könne. Soweit er seine Verurteilung überhaupt kommentierte, hatte er sich seiner Meinung nach kein kriminelles Delikt, sondern allenfalls einen Rechtsirrtum vorzuwerfen, veranlasst durch eine fehlerhafte fachliche Beratung. Es handelte sich um Peanuts, die im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Schatzmeister des FDP-Landesverbandes NRW anfielen. 1988 bis 1993 war Lambsdorff dann Vorsitzender der FDP, seit 1993 ihr Ehrenvorsitzender. Ein Foto aus dem Jahr 1989 zeigt ihn neben Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, dem Westberliner Bürgermeister Walter Momper und dem unglücklichen Hans Modrow an der geöffneten Berliner Mauer.
Der Einfluss des großen Geldes auf die Politik wurde durch den Flick-Skandal nicht beseitigt, sondern auf eine gesäuberte Basis gestellt und dadurch sozusagen moralisch gefestigt. Bestechlichkeit, vor Gericht nicht erwiesen, bleibt verboten, allgemeine Landschaftspflege erlaubt. Finanzielle Zuwendungen an Politiker dürfen von diesen angenommen, müssen aber versteuert werden, auch wenn sie diese anschließend an ihre Parteien weitergeben (und anschließend von der Steuer absetzen dürfen). Großspenden sind dem Bundestagspräsidenten zu melden und werden von diesem regelmäßig veröffentlicht. Also: Wer viel hat, kann viel Einfluss nehmen, ganz legal.
Noch ein Sieg
Die Behauptung, großes Geld könne Politik kaufen, ist etwas einfach. Parteien werden für die Eigentümer großer Vermögen erst attraktiv, wenn sie beachtenswerte außerökonomische Ressourcen, sprich: Massenanhang, für sich mobilisieren können. Ausweislich der Berichte des Bundestagspräsidenten besteht zwar durchaus eine Entsprechung zwischen Spendenhöhe und Wählerzuspruch, doch gibt es keine ausreichende Klarheit über das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Lediglich bei der FDP deutet sich eine Asymmetrie zwischen hoher finanzieller Aufpäppelung und recht geringem personellen Zulauf an.
1982, als Klaus Förster schon gegen Flick ermittelte und Lambsdorff mit einem Grundsatzpapier das Ende der sozialliberalen Koalition einläutete, erregte ein Skandal um die gewerkschaftsnahe Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat große Aufregung. Vorstandsmitglieder hatten sich bereichert, das Unternehmen geriet in die roten Zahlen und musste in den nächsten Jahren liquidiert werden. Fazit: Sozialdemokraten könnten nicht mit Geld umgehen, der soziale Wohnungsbau habe sich überlebt. Der Flick-Skandal verhinderte nicht die nun anbrechenden 16 Jahre der Ära Kohl. Nähe zum Kapital galt als Erfolgsgarantie.
Klaus Förster hatte schon sehr früh eine Konsequenz aus seinen Erfahrungen gezogen. Er verließ 1983 den öffentlichen Dienst und wurde Steueranwalt. Noch ein Sieg des Liberalismus.