Fleur Jaeggy: Weltberühmt, nur nicht zu Hause

Fleur Jaeggy sitzt auf dem niedrigen Divan, vor ihr ein mit Büchern beladener Beistelltisch, dahinter, wie ein erhöhtes Podest, das Pult. Dort steht die Schreibmaschine, ein Monument durchwachter Nächte, wie sie die Schriftstellerin, heute 83, früher über ihren Texten verbrachte. Mittlerweile ist die graugrüne Hermes zwar nicht mehr oft in Gebrauch. Doch sie gehört zum Inventar dieser Kernzone schriftstellerischer Kreativität.

Das Arbeitszimmer, in dem wir uns wie immer bei unseren Treffen befinden, ist gleichzeitig der salotto von Fleur Jaeggys Wohnung im obersten Stockwerk eines altehrwürdigen Gebäudekomplexes. Die Autorin lebt seit Jahrzehnten hier in Mailand. Eine kleine Terrasse mit üppigen Pflanzen, auf denen sich Vögel niederlassen, erweckt den Eindruck von Natur, obwohl es bloß wenige Schritte sind zu Domplatz, Galleria und Corso Vittorio Emanuele. Dem urbanen Betrieb zieht Fleur Jaeggy ihre abgeschirmte Umgebung vor, in Gesellschaft jener Dinge, die sie seit je begleiten: der vom Vater geerbte Spitzweg im Goldrahmen neben dem Divan, der zierliche, an die Mutter erinnernde Flügel im Nebenzimmer, die Glasmalerei mit dem historischen Familienwappen der Jaeggys. Im Korridor füllen Raritäten die hohen Bücherregale. Eine Foto-Pinnwand dokumentiert prägende Begegnungen. Nicht nur solche mit Personen – auch mit Erich, dem treuen Schwan aus einem Brandenburger Winter. Er habe sie täglich besucht während ihres Aufenthalts dort, sagt Fleur Jaeggy.

In der Hand hält sie die Liste der Übersetzungen ihres Werks, das im italienischen Original bei Adelphi erscheint, dem Verlag ihres Ehemanns Roberto Calasso. Wie eine Trophäe streckt sie mir die Liste hin: als Beweis für den weltweiten Erfolg ihrer Bücher. Überall werden sie gelesen, von Ägypten bis Schweden, von den USA bis China, von Island bis Spanien samt Katalonien und Galicien. Eine Sonderrolle scheint Armenien zu spielen. Warum, habe ich nie herausgefunden. Hängt es mit Ossip Mandelstams Reise nach Armenien zusammen, die immer in Griffnähe auf Jaeggys Büchertisch liegt?

Auch Germany steht auf der Liste. Allerdings – und skandalöserweise – waren die paar auf Deutsch übersetzten Bände jahrelang vergriffen. Fleur Jaeggy, in Zürich geboren, verbrachte ihre Jugend weitgehend in Deutschschweizer Internaten. Die Schweiz ist nicht nur im fulminanten, von Robert-Walserscher Anmutung durchzogenen Chef d’Œuvre Die seligen Jahre der Züchtigung gegenwärtig, sondern, als dumpfe Atmosphäre verstockter Gewalt, auch in den Kurzgeschichten von Die Angst vor dem Himmel. Oder in Proleterka: Der Roman spiegelt von der Fahrt eines jugoslawischen Küstendampfers zurück zu den familiären Hintergründen der Protagonistin in Zürich, im Aargau und im Tessin. Trotz alldem hat sich kein Schweizer Verlag um sie bemüht. Jetzt springt Suhrkamp ein, zu dessen Programm diese eklektische Autorin ohnehin am besten passt. Der Verlag hat eine Gesamtausgabe angekündigt. Als erster Titel ist nun, zehn Jahre nach dem Original, Ich bin der Bruder von XX erschienen, eine Sammlung von Texten, die im Lauf einer längeren Zeitspanne entstanden sind. Fleur Jaeggy ist das Gegenteil einer Vielschreiberin.

Der schwarze Spitzenschleier zum Beispiel, 2011 im Corriere della Sera erstpubliziert, dann in den Sammelband aufgenommen, liegt nun in der souveränen Übersetzung von Barbara Schaden auf Deutsch vor. Die Ich-Erzählerin beschreibt darin ein Foto, das ihre Mutter und den kleinen Bruder gemeinsam mit dem Papst zeigt. Weshalb die Audienz? Diese Frage treibt die Erzählerin um, oder besser: Die aus der Bildbetrachtung gewonnene Einsicht, dass ihre Mutter unter dem mondänen Äußeren eine Depression versteckte, trifft die Erzählerin empfindlich. Der Stich der Empfindung überträgt sich, typisch für Fleur Jaeggy, im Schlusssatz auf die Leserin, auf den Leser: „Die Tochter zuckte zusammen in einer jähen Anwandlung der Liebe gegenüber ihrer Mutter, die vielleicht immer verheimlicht hat, dass sie so schrecklich unglücklich war, und sich von einer Fotografie entlarven ließ.“

Außer der Pinnwand gibt es in Fleur Jaeggys Wunderkammer auch Fotoalben, in die ich nach und nach Einblick erhielt. Irgendwann lag die Fotografie der spitzenverschleierten Mutter vor uns, wie in der Erzählung. Ich stutzte: Hatte die Autorin nicht behauptet, es handle sich um eine literarische Fiktion? Nun war sie ertappt! Kommentarlos gingen wir über die Entdeckung hinweg.

Der Gebrauch des Begriffs „Autofiktion“ war damals noch nicht in Mode. Und außerdem: Ist der Umgang mit der eigenen Biografie bei Fleur Jaeggy, dieser genuinen Schriftstellerin, wirklich „autofiktional“? Vielleicht so: Sie setzt, was sie für die Konstruktion eines Textes benötigt, aus Elementen zusammen, die, unter anderem, eigenem Erleben entstammen. Das Resultat ist Literatur.

Literatur und Leben changieren ineinander, überblenden sich gegenseitig. Was ist was? Bei aller Diskretion, wie sie Fleur Jaeggy kennzeichnet, begannen Fotos aus ihren privaten Alben plötzlich auf den Adelphi-Ausgaben aufzutauchen. Das blonde Mädchen in Tracht auf dem Umschlag von Proleterka ist Fleur selbst, die jährlich neben ihrem Vater beim Sechseläuten mitmarschierte, dem Zürcher Umzug der Zünfte. Und das Kinderpaar auf der Taschenbuchausgabe von Sono il fratello di XX sind Fleur und ihr Halbbruder, dem die Titelgeschichte gewidmet ist – ein schwindelerregender Text, durchtränkt von schwermütiger Seelennot, wie sie nur verschriftlichen kann, wer solche Abgründe selber kennt.

Fleur Jaeggy sitzt auf dem niedrigen Divan, vor ihr ein mit Büchern beladener Beistelltisch, dahinter, wie ein erhöhtes Podest, das Pult. Dort steht die Schreibmaschine, ein Monument durchwachter Nächte, wie sie die Schriftstellerin, heute 83, früher über ihren Texten verbrachte. Mittlerweile ist die graugrüne Hermes zwar nicht mehr oft in Gebrauch. Doch sie gehört zum Inventar dieser Kernzone schriftstellerischer Kreativität.

Das Arbeitszimmer, in dem wir uns wie immer bei unseren Treffen befinden, ist gleichzeitig der salotto von Fleur Jaeggys Wohnung im obersten Stockwerk eines altehrwürdigen Gebäudekomplexes. Die Autorin lebt seit Jahrzehnten hier in Mailand. Eine kleine Terrasse mit üppigen Pflanzen, auf denen sich Vögel niederlassen, erweckt den Eindruck von Natur, obwohl es bloß wenige Schritte sind zu Domplatz, Galleria und Corso Vittorio Emanuele. Dem urbanen Betrieb zieht Fleur Jaeggy ihre abgeschirmte Umgebung vor, in Gesellschaft jener Dinge, die sie seit je begleiten: der vom Vater geerbte Spitzweg im Goldrahmen neben dem Divan, der zierliche, an die Mutter erinnernde Flügel im Nebenzimmer, die Glasmalerei mit dem historischen Familienwappen der Jaeggys. Im Korridor füllen Raritäten die hohen Bücherregale. Eine Foto-Pinnwand dokumentiert prägende Begegnungen. Nicht nur solche mit Personen – auch mit Erich, dem treuen Schwan aus einem Brandenburger Winter. Er habe sie täglich besucht während ihres Aufenthalts dort, sagt Fleur Jaeggy.

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