Filmfestspiele in Cannes: Schönheit zeitkritisch gesucht

Es
wäre keine politische Entscheidung gewesen, sondern die einzig Richtige. Doch
auf den 77. Filmfestspielen von Cannes gewann der iranische Film The Seed
of the Sacred Fig
nicht die Goldene Palme. Am Ende des Festivals hatte dieser
Film gezeigt, wozu das Kino imstande ist: Widerstand in Bilder zu verwandeln, die
Angst der Angstmacher vorzuführen. 

Seit jeher interessiert sich der Regisseur
Mohammad Rasoulof für Menschen, die durch ihre Arbeit und ihren Alltag ein
totalitäres System am Laufen halten. Hier ist es ein fürsorglicher
Familienvater, der gerade zum Ermittler am Islamischen Revolutionsgericht
befördert wurde. Seine stolze Ehefrau wittert weiteren Aufstieg, die beiden
Töchter leben in ihrer Welt, die sich wesentlich im Smartphone abspielt. Dort erleben
sie, wie auf der Straße die Proteste gegen das Regime und den Schleierzwang brutal
niedergeschlagen werden. Während die Töchter beginnen, den Eltern Fragen zu
stellen, fühlt sich der Vater von Regimegegnern und bald auch von der Familie
verfolgt. Von einem Kammerspiel in einer Wohnung entwickelt sich der Film zu
einem Paranoiathriller in einem verlassenen Dorf. Diese auch formal
konsequenteste Erzählung des Wettbewerbs von Cannes wurde mit einem zusätzlich
eingerichteten Spezialpreis der Jury abgespeist.

Zu
jeder Auszeichnung verlas ein Mitglied der internationalen Jury eine
Begründung, bei Rasoulof war es die libanesische Regisseurin Nadine Labaki. Sie
nutzte die große Bühne des Palais du Festival, um auf das Leiden von Frauen und
Kindern in Gaza hinzuweisen. Zuvor hatte die belgische Schauspielerin Lubna
Azabal, Präsidentin der Kurzfilmjury, die Freilassung der israelischen Geiseln
und einen Waffenstillstand gefordert. Es waren die einzigen politischen
Äußerungen des Abends, der wie stets in Cannes mit gut geölter Routine und
glamourösen Intermezzi verlief.

Ein
großer Moment: das Zusammentreffen zweier Haudegen der Kinogeschichte. Der
85-jährige Francis Ford Coppola verlieh die Goldene Ehrenpalme an seinen
Kameraden, den 80-jährigen Star-Wars-Erfinder George Lucas, den er einst
förderte. Beide Herren wirkten nicht ganz trittfest, aber ihre schwungvolle Umarmung
zeugte von Vertrautheit und von ihrer mehr als fünfzigjährigen Freundschaft. Er
sei nicht der Typ, der Filme drehe, die Preise bekämen, hatte George Lucas am
Vortag während seiner Masterclass gesagt. Umso mehr freue er sich über seine
Ehrenpalme. Das Geheimnis des Filmemachens, so hatte es Lucas in Cannes mehrmals
formuliert, sei Beharrlichkeit. Die Beharrlichkeit, allen so lange auf die
Nerven zu gehen, bis der Film so geworden sei, wie man ihn haben wolle.

Emma Stone wie Schneewittchen

Beharrlich
ist auch der US-amerikanische Regisseur Sean Baker. Seit fünfzehn Jahren zeigt er
die USA aus der Perspektive der sogenannten Unterschicht. Seine Heldinnen sind
Pornodarsteller, Sozialhilfeempfänger, Sexarbeiterinnen. Beharrlich gibt ihnen Baker
Rückendeckung mit seiner dokumentarischen Kamera und einer Dramaturgie der satten
Farben. Bisher. 

In seinem neuen Film Anora folgt Baker einer Sexarbeiterin in
New York. In ihrem Club lernt sie einen sehr jungen Russen kennen. Die beiden
kommen sich näher, werden vertraut, hängen in der Villa seiner Eltern ab. Geheiratet
wird in Las Vegas. Sean Baker zeigt, wie sich die Beziehung der beiden
verändert, doch der Sex bleibt seltsam geschäftsmäßig. Anora bleibt das Objekt.
Schon die glossy gefilmte Einstiegsszene wirkt wie ein Werbeclip für einen Erotikclub,
und nicht wie die Vorstellung eines Arbeitsplatzes. Bakers Film will eine
Komödie sein: Die Oligarchenfamilie schickt ihre Handlanger, irgendwann stehen auch
die Eltern selbst vor der Tür, es wird viel gerangelt und gebrüllt. Aber das
russische Milieu bleibt Kulisse. Weiß der Himmel, was die Jury unter dem Vorsitz der
US-amerikanischen Regisseurin Greta Gerwig bewog, Sean Baker für seinen bisher
schlechtesten Film die Goldene Palme zu verleihen.

Cannes,
die 77. Ausgabe, war wieder das Festival der Stammgäste und älteren Herren. Doch
diesmal war es auch ein Wettbewerb der ältlichen Blicke und zweifelhaften
Körperbilder. Quer durch die Jahrzehnte schickt der Italiener Paolo Sorrentino in Parthenope eine Sirene durch Neapel und seine Stadtgeschichte, im Wesentlichen
um sie oben ohne zu zeigen. Der Kanadier David Cronenberg lässt in The
Shrouds
einen Beerdigungsunternehmer per Videokamera in das Grab und die
skelettierten Überreste seiner Frau kriechen („Ihr Körper war mein zu Hause“). Wie
ein Schneewittchen liegt die nackte und bewusstlose Emma Stone auf dem Sofa,
bevor sie von ihrem Filmehemann vergewaltigt wird (Kinds of Kindness von
Yorgos Lanthimos).

Immerhin,
ein Film übersteigerte die Körperbilder und attackierte auf diese Weise auch das
allabendliche Schaulaufen auf dem roten Teppich. In dem Horrorfilm The
Substance
spielt Demi Moore eine in die Jahre gekommene Schauspielerin, die sich
unter dem Einfluss einer wundersamen Substanz aufspaltet: in eine makellose
junge und eine greisenhafte Variante. Die Junge übernimmt das Schönheitsideal,
unter dem die Alte leidet. Es beginnt ein mörderischer Kampf, der buchstäblich
ans Eingemachte geht. Für diese Mischung aus Splatter- und Debattenfilm gab es für
die Regisseurin Coralie Fargeat aber nur den Drehbuchpreis.

Nach
dem spektakulären Wettbewerb des vergangenen Jahres (Anatomie eines Falls, The
Zone of Interest
, Fallende Blätter, Perfect Days) war die 77. Ausgabe des
Festivals ein eher mittelmäßiger Jahrgang. Sehnsüchtig suchte man nach einem
Film, der sich auf die Schönheit, die elementare Kraft des Kinos verließ. Und
er kam dann auch. All We Imagine as Light von der indischen Regisseurin Payal
Kapadia folgt drei Frauen, die als Krankenschwestern und Köchin in einem
Krankenhaus in Mumbai arbeiten. Mit einer ruhigen Kamera gleitet man in drei
Leben hinein. Zwischen Schichtarbeit, Kochen und Einkaufen geht es um die Dinge
des Lebens. Die Jüngste hat sich in einen Muslim verliebt, die Mittlere hört
nichts mehr von ihrem Mann in Deutschland, die Älteste, eine Witwe, kehrt in
ihr Dorf zurück. Aus der zunehmenden Verbundenheit der drei Frauen entsteht etwas:
ein Spielraum, ein Handlungsraum. Biografien kommen in Bewegung, ein Horizont
öffnet sich. All We Imagine as Light bekam in Cannes den Großen Preis der
Jury, und dieser berührende Film, ein wahrhaftiger Lichtblick, zeigt, was Kino
sein kann: Alles, was wir uns als Licht vorstellen.

Es
wäre keine politische Entscheidung gewesen, sondern die einzig Richtige. Doch
auf den 77. Filmfestspielen von Cannes gewann der iranische Film The Seed
of the Sacred Fig
nicht die Goldene Palme. Am Ende des Festivals hatte dieser
Film gezeigt, wozu das Kino imstande ist: Widerstand in Bilder zu verwandeln, die
Angst der Angstmacher vorzuführen. 

Seit jeher interessiert sich der Regisseur
Mohammad Rasoulof für Menschen, die durch ihre Arbeit und ihren Alltag ein
totalitäres System am Laufen halten. Hier ist es ein fürsorglicher
Familienvater, der gerade zum Ermittler am Islamischen Revolutionsgericht
befördert wurde. Seine stolze Ehefrau wittert weiteren Aufstieg, die beiden
Töchter leben in ihrer Welt, die sich wesentlich im Smartphone abspielt. Dort erleben
sie, wie auf der Straße die Proteste gegen das Regime und den Schleierzwang brutal
niedergeschlagen werden. Während die Töchter beginnen, den Eltern Fragen zu
stellen, fühlt sich der Vater von Regimegegnern und bald auch von der Familie
verfolgt. Von einem Kammerspiel in einer Wohnung entwickelt sich der Film zu
einem Paranoiathriller in einem verlassenen Dorf. Diese auch formal
konsequenteste Erzählung des Wettbewerbs von Cannes wurde mit einem zusätzlich
eingerichteten Spezialpreis der Jury abgespeist.

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