Filmfestival in Venedig: Wer ist die wahre Diva am Lido?

Was ist eine Diva? Oder vielmehr: Wer darf sich Diva nennen, in diesem unfassbar heißen, schwülen Spätsommerfestival
in Venedig
? Während die Besucherinnen und Besucher schwitzen, kommen zwei Männer
cool auf Wassertaxis vorgefahren, die diesen Titel fraglos für sich
beanspruchen: Brad Pitt und George Clooney stellen in aufeinander abgestimmten
pastellfarbenen Anzügen ihre Gangsterkomödie Wolfs vor. Im Film von Jon
Watts sind die beiden alles andere als glamourös, sie sind sogenannte Cleaner
oder Fixer, sie beseitigen Leichen, reinigen den Tatort, verschaffen den
Tätern Alibis.

Vor 16 Jahren standen Clooney und
Pitt zum letzten Mal gemeinsam vor der Kamera, in der Coen-Brüder-Komödie Burn
after reading
. „Damals hatte ich das Vergnügen, ihm ins Gesicht zu schießen“,
sagt Clooney auf der Pressekonferenz, „das wollten wir jetzt wiederholen.“ Beide
sind sich einig, dass es in ihrem Alter (Clooney ist 63, Pitt tatsächlich auch
schon 60) doch sehr schön sei, mit einer vertrauten Person zusammenzuarbeiten.

Zwei einsame Wölfe in Lederjacken

In ihren erfolgreichen Heist-Movies
Oceans Eleven/12 und 13 (2001–2007) spielten sie Ganoven, die nur im
Team funktionierten. In Wolfs, der auf dem Festival außer Konkurrenz läuft, erledigen sie ihren Job bevorzugt allein.
Zwei einsame Wölfe in Lederjacken und mit angegrauten Haaren, zwei
abgehalfterte Kerle, die der Zufall, das Schicksal und ein allzu eng auf seine
Stars zugeschnittenes Drehbuch zusammenbringen. Wolfs spielt in einem
fast menschenleeren New York während einer langen Nacht, in der man vergeblich
darauf wartet, dass der Film endlich Fahrt aufnimmt. Clooney und Pitt suhlen
sich derweil in Coolness und Selbstironie. Ihre Figuren ächzen unter
Rückenproblemen – zu viele Leichen in Kofferräume gehievt. Einmal zücken sie
ihre Lesebrillen, um eine Nachricht auf einem Pager zu entziffern. Zwei
Superstars und Co-Produzenten reproduzieren das Bild der ewigen Jungs und
richten sich dabei in der Selbstgefälligkeit alter Männer ein.

Eine Diva ist, da ist sich
zumindest die italienische Presse einig, Nicole Kidman. Dreimal war die
australische Schauspielerin bisher auf dem Festival am Lido vertreten, dreimal
mit Filmen, in denen es um die eher dunklen Seiten der Erotik geht. 1999 an der
Seite ihres damaligen Film- und realen Ehemanns Tom Cruise in Stanley Kubricks Eyes
Wide Shut
, 2014 in Jonathan Glazers Birth, einem umstrittenen Werk,
in dem sich ihre Filmfigur auf seltsame Weise zu einem Jungen hingezogen fühlt,
in dem sie die Inkarnation ihres verstorbenen Mannes sieht. 

Nicole Kidman und Harris Dickinson

Im Film Babygirl
der niederländischen Regisseurin Halina Reijn spielt sie nun Romy, eine erfolgreiche
CEO, die sich in einer sterilen, unterkühlten Businesswelt bewegt und sich unnahbar
gibt. Perfekt scheint das Familienleben mit Töchtern und Ehemann Jacob (Antonio
Banderas), doch in Wahrheit sehnt
sich Romy nach Unterwerfung. Sie beginnt eine Affäre mit ihrem offensiv flirtenden Praktikanten
Samuel (Harris Dickinson) und wird von der Befehlsgeberin zur Befehlsempfängerin.
In einem abgerissenen Hotel finden erste Rollenspiele statt, sie leckt auf
allen Vieren einen Teller mit Milch aus, später hält er sie wie ein Baby im
Arm. Der Film ist ein glossy Erotikthriller, der unablässig mit der
Grenzüberschreitung kokettiert und sie dabei geflissentlich vermeidet.

Eine schonungslos ehrliche Szene
hat Babygirl immerhin zu bieten: Eine Großaufnahme zeigt, wie sich Romy
ohne mit der Wimper zu zucken von einem Schönheitschirurgen Botoxspritzen
setzen lässt. Vor etwa 15 Jahren hieß es, Kidmans Karriere sei zu Ende, zu viel
Botox habe ihre Mimik erstarren lassen. Vielleicht ist diese Szene das Statement
einer Diva: Seht her, ich bin noch da. Und es ist mir egal, was ihr von mir denkt!

Primadonna assoluta: Angelina Jolie kehrt als Maria Callas zurück auf die Leinwand.

Die größte Fallhöhe hat auf diesem Filmfestival eine andere Schauspielerin gemeistert: Angelina
Jolie
. Sie spielt die Primadonna assoluta: Maria Callas. Pablo Larraíns Film Maria
ist ein Requiem und eine Studie der Einsamkeit und schließt an seine früheren
Frauenporträts Jackie (über Jackie Kennedy) und Spencer (über Prinzessin Diana)
an. Maria begleitet seine Heldin während ihrer letzten Tage in ihrem Pariser
Appartement. Die Sängerin wird bedient und
bemuttert von ihrem Haushälterpaar Ferruccio und Bruna, sie ist süchtig nach
Psychopharmaka und hat Halluzinationen. Auf ihren Spaziergängen durch Paris
begegnet sie Chören aus Verdi-Opern, sie imaginiert einen TV-Journalisten
namens Mandrax, dem sie ihre Lebensgeschichte erzählt, sie lässt ihre Triumphe
an sich vorbeiziehen – aber auch ihre gescheiterte Liebesgeschichte mit
Aristoteles Onassis.

In kurzen, prägnanten Szenen deutet
Jolie die Verzweiflung einer großen Künstlerin an, der ihre Aura und ihre
Stimme abhandengekommen sind. Jolies aufrechter Gang und ihr zurückgenommenes
Spiel verleihen der abgestiegenen Diva Stolz und Würde. Man glaubt Angelina
Jolie keinen Moment, dass sie Maria Callas ist, und man muss es auch nicht
glauben. Und trotzdem ist sie da, in jeder Szene: die Diva.

Was ist eine Diva? Oder vielmehr: Wer darf sich Diva nennen, in diesem unfassbar heißen, schwülen Spätsommerfestival
in Venedig
? Während die Besucherinnen und Besucher schwitzen, kommen zwei Männer
cool auf Wassertaxis vorgefahren, die diesen Titel fraglos für sich
beanspruchen: Brad Pitt und George Clooney stellen in aufeinander abgestimmten
pastellfarbenen Anzügen ihre Gangsterkomödie Wolfs vor. Im Film von Jon
Watts sind die beiden alles andere als glamourös, sie sind sogenannte Cleaner
oder Fixer, sie beseitigen Leichen, reinigen den Tatort, verschaffen den
Tätern Alibis.

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