Pokrowsk de facto gefallen, Rückschläge an der Saporischschja-Front: Jedes neue Friedensangebot kann für die Ukraine härter sein als das jetzige. Russland kündigt eine „Winterkampagne“ an, was womöglich als Winteroffensive zu deuten ist
Der russische Präsident Wladimir Putin in Begleitung des Kreml-Wirtschaftsbeauftragten Kirill Dmitriev und des Kreml-Beraters Juri Uschakow empfängt am 2. Dezember 2025 im Kreml in Moskau den US-Sonderbeauftragten Steve Witkoff und den Schwiegersohn von US-Präsident Donald Trump, Jared Kushner
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Eine radikale Zuspitzung im russisch-ukrainischen Krieg erlebt derzeit die östliche Saporischschja-Front. Schwere Kämpfe sind rund um die und bereits in der Stadt Huljajpole ausgebrochen. Nach Kriegsbeginn 2022 war sie für die russische Armee lange Zeit unerreichbar, doch nun gerät sie in einen von ihr erkämpften Halbkessel, nachdem die Front östlich davon zeitweise zusammengebrochen ist.
Erst von ukrainischen Portalen gemeldet, werden die Gründe dafür inzwischen offiziell bestätigt: Es sei auf der eigenen Seite zu einer massiven Fahnenflucht gekommen. Einige Verbände hätten „befestigte Positionen ohne vorherigen Befehl verlassen, was eine Flanke öffnete, in die russische Kräfte eindringen konnten“, so ein Statement aus den ukrainischen Streitkräften. Die Folgen sind für die Saporischschja-Front gravierend. Sollten russische Truppen Huljajpole einnehmen, würde einer der wichtigsten Knotenpunkte der ukrainischen Defensive im Süden fallen.
Eine geordnete Verteidigung von Pokrowsk ist schon vor Wochen zusammengebrochen
Kaum anders stellt sich die Situation weiter nördlich im Gebiet Dnipro dar, wo sich ukrainische Verbände in den vergangenen Wochen aus einem halben Dutzend Ortschaften zurückziehen mussten, und der Gegner im Dnipro-Gebiet Meter für Meter nach Nordwesten vorrückt.
Was bislang als Träumerei abgetan wurde, könnte bald Realität werden, sollte die russische Armee weiter im gleichen Tempo in die Tiefe der Dnipro-Region eindringen. Dann ist damit zu rechnen, dass der Kreml auch diese Gebiete für Territorialforderungen bei Friedensverhandlungen aufgreift. „Jedes neue Friedensangebot wird härter sein als das vorherige“, so das Leitmotiv in Moskau, was sich am Beispiel der Dnipro-Region bald stärker als woanders zeigen könnte.
Die mit Abstand dramatischste Lage findet sich rund um Pokrowsk-Mirnohrad – einer der wichtigsten Stadtagglomerationen im Donbass. In weiten Zangengriffen vom Norden und Süden durchschnitten russische Truppen die wichtigsten Versorgungsrouten und etablierten de facto einen Kessel rund um die gesamte Agglomeration.
Ukrainische Soldaten im Kessel von Mirnohrad
Zwar besteht derzeit noch ein schmaler Flaschenhals, wo die Russen mit ihren „boots on the ground“ nicht stehen, jedoch befindet sich dieser Korridor unter ihrer totalen Drohnen-Kontrolle, während ukrainische Feldkommandeure einräumen, dass die Versorgung dieses Terrains nur noch aus der Luft erfolgt, was auf Dauer kaum durchzuhalten sein wird. Pokrowsk selbst ist de facto gefallen, eine geordnete Verteidigung schon vor Wochen zusammengebrochen. Sie existierte nur noch durch einzelne Widerstandspunkte, sodass russische Verbände bis auf nordwestliche Bezirke das gesamte Stadtgebiet kontrollieren.
Die Überlebenden der Garnison haben sich nach Angaben regierungskritischer ukrainischer Reporter nach Mirnohrad zurückgezogen, also noch weiter in den Kessel hinein, was das Ganze potenziell zu einem Himmelfahrtskommando macht. Sofern Kiew nicht in kürzester Zeit eine Rettungsoffensive mit signifikanten Kräften startet, dürfte sich der Kessel von Mirnohrad final schließen – mit den beiden einzigen Perspektiven, die den Soldaten noch bleiben: den „heldenhaften Tod“ oder eine Gefangennahme.
Es droht der schmerzhafteste Verlust seit dem Fall von Bachmut im Mai 2023
Ein endgültiger Fall von Pokrowsk-Mirnohrad bringt Russland einerseits seinem Ziel näher, den ganzen Donbass einzunehmen, andererseits der Ukraine den schmerzhaftesten Verlust seit dem Fall von Bachmut im Mai 2023 zuzufügen. Daran Anteil hat eine kurzsichtige Kommunikation der Führung in Kiew, die Pokrowsk wie seinerzeit Bachmut mit einer staatstragenden Symbolik versah und zur uneinnehmbaren „Fortezia“ ausrief, dann aber die sich allmählich verschlechternde Lage kleinredete, wochenlang Verluste dementierte und zahlreiche Soldatenleben opferte, die bei einem realistischen Lagebild hätten gerettet werden können.
Die Art und Weise, wie der Generalstab bei Pokrowsk auch noch den nächsten Halbkessel zugelassen hat, sorgt bei ukrainischen Beobachtern wie Familienangehörigen der in Pokrowsk-Mirnohrad Kämpfenden umso mehr für Fassungslosigkeit. Zugleich wird verkündet, es sei „alles unter Kontrolle“ und Pokrowsk „von Russen gesäubert“.
Die Diskrepanz zwischen der Lage und der Bereitschaft in Kiew, dies anzuerkennen, war seit Kriegsbeginn vermutlich noch nie so groß wie im Augenblick. Exemplarisch sind die Reaktionen auf den Anlauf zum Frieden, wie er von Donald Trump unternommen wird, der nicht etwa in Moskau, sondern vorrangig in Kiew abgelehnt wird, weil die Agenda zu „Russland-freundlich“ sei.
Steven Witkoff und Jared Kushner sondieren in Moskau
Armeechef Olexandr Syrskyj bemühte das Mantra, jegliche Territorialabgaben seien für Kiew per se undenkbar. Eine Position, die weder mit der Frontlage noch mit realistischen Friedensszenarien vereinbar ist. Vor diesem Hintergrund nahm die russische Kriegsdebatte die jüngsten Sondierungen von Steven Witkoff und Jared Kushner in Moskau als wenig bedeutungsvoll wahr. Witkoff, der in diesem Jahr zum sechsten Mal in Moskau war, redete stundenlang mit Wladimir Putin.
Wie es hieß, wurden Punkt für Punkt die russischen Minimalforderungen durchgegangen, die auch für Washington akzeptabel sind, und geschlussfolgert, dass sie unvereinbar mit dem Wunschdenken in Kiew seien. Also geht der Krieg weiter bis zur nächsten Friedensinitiative und dem nächsten Witkoff-Besuch in Moskau, wenn die Frontlinie aller Voraussicht nach weiter westlich liegen wird.
„General Frost“: Was ein Wintereinbruch für Front und Friedensverhandlungen bedeuten kann
Russische Stellen lassen durchblicken, dass man vor einer Winterkampagne stehe. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betont die aktive Vorbereitung auf eine Winteroffensive, während russische Kriegsreporter übereinstimmend Vorbereitungen nahe der Front melden. Wann es dazu kommt, ist dennoch ungewiss, zumal sich „General Frost“ noch nicht blicken lässt, und die Temperaturen in Zentralrussland bisher noch um null Grad pendeln.
Man kann die Ankündigungen dennoch so deuten, dass sich das aktuelle Verhandlungsfenster womöglich schließt und eine nächste Verhandlungschance erst zu erwarten ist, wenn der Winter Anfang März zu Ende geht. Die dann zu erwartenden Angebote dürften für die Ukraine schlechter ausfallen als die momentanen.