Fachkräftemangel: Unternehmen wollen Mitarbeiter aus Syrien behalten

Peter Bollhagen ist genervt, das merkt man. Genervt von Politikern, die ihm, dem Handwerker, mit ihren voreiligen Ankündigungen das Leben schwer machen. „Das ist eine Verunsicherung, die da ausgelöst wird, die mich richtig ärgert.“

Bollhagen meint Leute wie den CDU-Politiker Jens Spahn. Der eigentliche Auslöser für den Ärger fand 4000 Kilometer entfernt statt. Am vergangenen Sonntag fiel die syrische Hauptstadt Damaskus nach fast 14 Jahren Bürgerkrieg an die Rebellen, Diktator Baschar al-Assad floh nach Moskau. Und innerhalb weniger Stunden begannen deutsche Politiker die Diskussion über eine Rückkehr der in Deutschland lebenden Syrer in ihr Herkunftsland. Spahn schlug vor, der Staat solle jedem ausreisewilligen Syrer 1000 Euro Starthilfe geben. Und die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion Andrea Lindholz (CSU) forderte noch am selben Tag den sofortigen Aufnahmestopp für Syrer.

Eine völlig verfrühte Diskussion, findet Bollhagen, der einen Malereibetrieb in Bremen führt. Von den 16 Gesellen, die er beschäftigt, sind fünf Syrer. 2017 hat er den ersten angestellt. Auch Afrikaner und Afghanen gehören inzwischen zur Belegschaft – unumgänglich, wenn das Handwerk noch eine Zukunft haben soll, glaubt Bollhagen. Seine syrischen Mitarbeiter wollten in Deutschland bleiben. Ohnehin sei die Lage noch viel zu unübersichtlich. „Da ist noch überhaupt nichts vorbei.“ Die Meinungen in seinem Team über den Sturz Assads sind gespalten. Einer freue sich über die Befreiung vom alten Regime, ein anderer fürchte, dass nun erst recht das Chaos ausbreche. Und einer, ein Kurde, sorge sich, dass es seiner Volksgruppe unter den siegreichen Islamisten nicht unbedingt besser ergehen könnte.

Die syrischen Mitarbeiter seien „eine wichtige Stütze“ der Firma, sagt Bollhagen. Einen will er bald zum Teilhaber machen, bezahlt ihm die Meisterschule. „Wenn die weg wären, hätte ich ein Pro­blem.“ Aber auch schon die Diskussion allein ist ein Störfaktor: „Als Unternehmer muss ich sagen: Verunsicherung ist immer unproduktiv.“ Die Syrer fühlten sich ohnehin ständig „in Sippenhaft genommen“, etwa nach dem Messerangriff von Solingen.

2022 waren schon 60 Prozent erwerbstätig

Syrer sind in Deutschland die größte Ausländergruppe nach Türken und Ukrainern. Fast eine Million von ihnen leben hier, eingebürgerte deutsche Staatsbürger nicht mitgezählt. Auch deren Zahl sei „erheblich“, sagt Herbert Brücker, der am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung für das Thema Migration zuständig ist. Allein im Jahr 2023 wurden 75.000 Syrer eingebürgert. Und immer mehr von ihnen sind erwerbstätig. Von den syrischen Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kamen, waren es 2022 schon 60 Prozent, heute dürften es eher 70 Prozent sein, schätzt Brücker. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis zumindest die Männer die Erwerbstätigenquote der deutschen Bevölkerung ohne Migrationsgeschichte erreichen, die derzeit bei 77 Prozent liegt, glaubt der Ökonom. Von denjenigen Erwerbstätigen, die bereits sieben Jahre in Deutschland sind, arbeitet eine Mehrheit von 61 Prozent als Fachkraft.

Gerade wegen dieser großen Fortschritte wäre jetzt ein denkbar unglücklicher Zeitpunkt für einen Exodus der Syrer. Syrische Arbeitskräfte machen zwar weniger als ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung aus, es würde also nicht alles zusammenbrechen, wenn sie gingen. Aber Engpässe, die es ohnehin schon gibt, würden sich noch einmal verschärfen. Wenn alle Syrer das Land verließen, würden ungefähr so viele Erwerbstätige auf einen Schlag wegfallen, wie Deutschland jedes Jahr durch die Alterung der Gesellschaft verliert, sagt Brücker. Syrer sind vor allem in Dienstleistungsberufen tätig, im Handwerk, im Transportgewerbe, auf dem Bau oder im Gesundheitswesen. Syrer stellen mit knapp 6000 Personen auch die größte Gruppe ausländischer Ärzte in Deutschland, weshalb die Krankenhausgesellschaft bereits vor Personalengpässen warnt.

Aus Unternehmen und Verbänden kommt dementsprechend Kritik an den Vorstößen der Politiker. „Wir sind auf gut integrierte und qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen“, sagt Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands Die Familienunternehmer. Viele Betriebe hätten in die Aus- und Weiterbildung der Flüchtlinge investiert, um den Fach- und Arbeitskräftemangel auszugleichen. „Diese sollten dann auch nicht abgeschoben werden.“ Und Marc Tenbieg, geschäftsführender Vorstand des Deutschen Mittelstands-Bundes, sagt, kleine und mittlere Unternehmen, die „händeringend nach qualifiziertem Personal suchen“, würden „ihre syrischen Angestellten schmerzhaft vermissen. Der Mittelstand kann es sich nicht leisten, auf arbeitswillige Menschen zu verzichten. Deshalb lehnen wir einen Schnellschuss bei möglichen Rückführungen nach Syrien ab.“

„Deutschland ist meine zweite Heimat geworden“

Eine dieser Fachkräfte ist Muohsien Alhamada. Der 35-Jährige aus der nordostsyrischen Stadt Raqqa kam 2015 nach Deutschland, machte einen Sprachkurs, dann ab 2019 eine Umschulung zum Industrieelektriker an der privaten Bildungseinrichtung KWS in Essen, finanziert von der Windenergiebranche, die schon seit Jahren dringend nach Personal suchte und es in den Geflüchteten zu finden glaubte. „In Deutschland ist es wichtig, immer alles mit Zertifikat zu machen. Dann bist du auf der sicheren Seite“, sagt Alhamada. Gleich nach dem Abschluss fand er einen Job, wartet heute Windräder in schwindelerregender Höhe. Die Nachrichten aus Syrien hätten ihn „sehr gefreut“, sagt er. Aber er sei auch gleich ein wenig traurig gewesen. Für ihn ist klar, dass er irgendwann zurückwill, sobald auch seine Heimatstadt befreit ist. In Syrien sei immer mehr los gewesen, die Atmosphäre eine andere, die Geschäfte hätten 24 Stunden geöffnet. „Aber Deutschland ist meine zweite Heimat geworden.“ Zunächst will er nun abwarten, im Frühjahr vielleicht in Syrien Urlaub machen, wenn klarer ist, wie sich die Lage entwickelt.

Das Programm für Geflüchtete an der KWS wurde 2020 eingestellt. Für die Windbranche ging die Rechnung nicht auf, weil viele Geflüchtete nach der Fortbildung gut bezahlte Industriejobs in anderen Branchen fanden, statt Windräder hochzuklettern. Offenbar war die Nachfrage nach diesen Arbeitskräften also branchenübergreifend groß.

Besonders relevant könnte die Frage einer Rückkehr der Syrer in den Regionen Deutschlands werden, in denen die Bevölkerung schrumpft. So argumentiert der Bürgermeister der thüringischen Stadt Altenburg André Neumann (CDU), der sich auf der Plattform X ganz anders äußerte als seine Parteifreunde. Er hoffe, dass „viele Syrer bei uns bleiben“, er sei „traurig, sie gehen zu sehen“ – eine Aussage, die ihm in der Stadt, in der die AfD bei der letzten Wahl 37 Prozent holte, nicht nur Freunde macht. Im Gespräch mit der F.A.S. sagt Neumann, es sei ihm wichtig gewesen, „in so einem Moment gegenüber den Syrern zu zeigen, dass sie herzlich willkommen sind“. In Altenburg arbeiteten syrische Ärzte im Kreiskrankenhaus, Syrer hätten Firmen gegründet, die heute deutsche Angestellte beschäftigen, leer stehende Geschäfte wieder mit Leben gefüllt. Als der Ukrainekrieg ausbrach, waren es auch die Hilfsstrukturen, die die Syrer aufgebaut hatten, die es ermöglichten, schnell Unterstützung zu leisten. Die Bevölkerung Altenburgs wird in den kommenden Jahren von über 30.000 auf unter 25.000 zurückgehen. Ohne Gruppen wie die Syrer, warnt Neumann, wird bald keine Stadtgemeinschaft wie in der Vergangenheit mehr möglich sein.

Je länger der Aufenthalt, desto geringer die Rückkehrneigung

Eine massenhafte Abschiebung nach Syrien ist derzeit ohnehin nicht zu erwarten. Dafür müsste der deutsche Staat, von logistischen Herausforderungen einmal abgesehen, umfassend nachweisen können, dass es in Syrien sicher ist, was in der aktuellen Lage schwierig bleibt. Syrer könnten außerdem gegen die Aufhebung ihres Aufenthaltstitels klagen. Das alles könne Jahre dauern, glaubt der Ökonom Brücker. Diejenigen, die bereits eingebürgert sind, können ohnehin nicht mehr abgeschoben werden.

Und dann ist da noch die Gruppe derjenigen, die die Bedingungen für die deutsche Staatsbürgerschaft erfüllen, sie aber bisher nicht beantragt haben. „Die werden jetzt Himmel und Hölle in Bewegung setzen“, glaubt Brücker. Seit im Juni die Reform des Einbürgerungsrechts in Kraft getreten ist, genügen dafür in der Regel fünf Jahre Aufenthalt in Deutschland statt bisher acht. Nicht zuletzt die langsame deutsche Verwaltung trage bisher dazu bei, dass Einbürgerungen sich sehr lange hinziehen.

Und was ist mit freiwilliger Abwanderung? Wie viele Syrer könnten wie Muohsien Alhamada zurück in ihre Heimat wollen, um etwa beim Wiederaufbau zu helfen? „Wir wissen aus der Migrationsforschung: Je länger der Aufenthalt ist, desto geringer ist die Neigung zur Rückkehr“, sagt Brücker. Bei den Syrern, von denen viele schon seit einem Jahrzehnt in Deutschland sind, sei daher nicht davon auszugehen, dass ein Großteil von ihnen freiwillig zurückkehrt. „In Umfragen, die noch aus der Zeit vor den aktuellen Entwicklungen stammen, sagen mehr als 90 Prozent, dass sie hierbleiben wollen.“

Wolle man die Menschen zur Rückkehr animieren, was angesichts des Fachkräftemangels ein fragwürdiges Ziel sei, sei ein Entzug des Aufenthaltstitels jedenfalls der völlig falsche Weg, warnt Brücker, denn dann nehme man den Menschen die Absicherung: „Wenn Sie Leuten sagen, ihr könnt nie wieder zurück, dann sinkt die Auswanderungsneigung.“ Das sehe man etwa daran, dass EU-Bürger in Deutschland viel häufiger in ihre Heimatländer zurückkehren als beispielsweise Türken. Muohsien Alhamada jedenfalls kann die Sache entspannt angehen. Er ist seit zwei Jahren deutscher Staatsbürger.

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