Die Köpfe rollten und der Mensch erfand sich neu
Wann ist ein Mensch ein Mensch? Dass sich diese Frage im 19. Jahrhundert angesichts einer neuen Tötungsmaschine – der Guillotine – stellte, klingt zugleich überraschend und naheliegend. Was der ungarische Essayist László F. Földényi ausgehend von dieser Frage in seinem Buch „Der lange Schatten der Guillotine“ zutage fördert, ist bestechend.
Földényi lese die Guillotine „als Auftakt wie Symbol für das Fragmentarische von Modernität schlechthin“, beschreibt Tania Martini: „Er liefert eine vibrierende Erzählung des 19. Jahrhunderts, in der das Zertrennende des Fallbeils in allen gesellschaftlichen Bereichen einen Widerhall findet. Überall wird das ‚Ideal eines Ganzen‘ abgeräumt. Von den abgeschnittenen Köpfen und der alle beschäftigenden Frage, was ein abgeschnittener Kopf überhaupt noch wahrnehme, wodurch der Mensch ein Mensch sei und wann genau nicht mehr, war es nicht weit zur Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie, von physischer und moralischer Welt. Zwischen Mordmaschine, Dampfmaschine und Nähmaschine wurde die metaphysische Verlassenheit des Menschen zur Gewissheit.“
László F. Földényi: „Der lange Schatten der Guillotine“. Aus dem Ungarischen von Akos Doma. Matthes & Seitz, 302 S., geb., 28,– €.
Thatcher wusste eben, wie Perestroika geht
Der in Texas lehrende Historiker Fritz Bartel zeigt, dass globale Finanzmärkte und nicht Personen oder Ideen das Ende des Kalten Krieges herbeiführten.
Unser Rezensent Oliver Weber hebt hervor: „Nicht Personen und Ideen beherrschen bei ihm die Bühne, sondern die Geldströme der globalen Finanzmärkte.“ Die demokratische Machtübernahme in Polen, so die Pointe des Buches, „war Nebeneffekt eines IWF-Schuldenrestrukturierungsprogramms. Die sozialistische Führung suchte nach demokratischer Legitimation, um ihr Sparprogramm durchzusetzen. Der Kommunismus ergab in einer solchen Ära der sozialen Einschnitte keinerlei Sinn mehr“.
Fritz Bartel: „Gebrochene Versprechen“. Das Ende des Kalten Krieges und der Aufstieg des Neoliberalismus. Aus dem Englischen von F. Kurz und U. Mogultay. Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2025. 440 S., Abb., geb., 40,– €.
Und es wurde heftig gestritten
Dass eine neue Bibelübersetzung im Jahr 1926 das Potential hätte, eine der wichtigsten deutsch-jüdischen Debatten auszulösen, hätte wohl niemand gedacht. „Die Bibelübersetzung von Buber-Rosenzweig“ dokumentiert die Geschichte eines Projekts, über das Intellektuelle wie Walter Benjamin, Gerschom Scholem, Ernst Bloch, Margarete Susman und Siegfried Kracauer heftig stritten. Zur Diskussion standen nicht weniger als die zentralen Themen der Moderne.
Wolfgang Matz hält fest, die Dokumentation lese sich als „als überscharfe, atemberaubende Momentaufnahme aus einem Gemenge von Katastrophenbewusstsein, von inner- und außerweltlichen, politischen und religiösen Revolutions- oder Erlösungshoffnungen und Utopien.“ Der Sammelband vollziehe den „bis heute keineswegs antiquierten Streit um die Aktualisierbarkeit religiöser Gehalte“ nach – „und sei’s in jenen politischen Utopien des 20. Jahrhunderts, die sich zwar atheistisch verstehen, jedoch die ganze Last religiöser Erlösungsmystik mit sich schleppen“.
Wie Karlsruhe funktioniert
Die ehemalige Verfassungsrichterin Susanne Baer schildert in liebevoller Detailliertheit das Innenleben des Bundesverfassungsgerichts und räumt mit gängigen Mythen auf.
Unser Rezensent Klaus Ferdinand Gärditz schreibt: „Mit acht Richterinnen und Richtern pro Senat ist das Bundesverfassungsgericht vor allem Kollegialgericht. Seine Richterinnen und Richter sind Menschen, und die durch fallbezogene Anträge veranlasste Deutung der Verfassung ist keine Zauberei, sondern hochprofessionelles Handwerk.“ Das Buch sei „in Farbtiefe und Detailreichtum einzigartig“ und für ein breites wie „auch für ein Fachpublikum wertvoll“. Wer verstehen wolle, wie die internen Mechanismen im höchsten deutschen Gericht vonstattengehen, der komme hier auf seine Kosten.
Susanne Baer: „Rote Linien“. Wie das Bundesverfassungsgericht die Demokratie schützt. Herder Verlag, Freiburg 2025. 384 S., br., 22,– €.
Als der Nahostkonflikt entstand
Das Jahr 1936 ist ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Nahen Ostens. Die arabische Rebellion gegen die jüdischen Siedler und die britische Mandatsmacht, in der sich die Palästinenser als Volk zusammenfanden, dauerte circa drei Jahre und dient seither als Widerstandserzählung. Oren Kessler vollbringt das Kunststück, das Drama im Nahen Osten nahezu ideologiefrei darzustellen.
Rezensent Wolfgang Matz zeigt sich bewegt von der Hoffnungslosigkeit, die aus Kesslers Wissen spricht: „Liegt hier die Wurzel des Konflikts? Einwanderungsquoten, Mehrheitsverhältnisse, territoriale Teilungen, politische, administrative, militärische Dominanz – unendlich deprimierend ist nachzulesen, wie unter den Protagonisten sich immer wieder die rücksichtslosen Vertreter der eigenen Sache durchsetzen; wie Terror auf der Straße den Alltag zum Kampfplatz macht; wie pazifistische Siedler zu Waffenträgern werden; wie all die Friedensideen, die man bis heute diskutiert – Unabhängigkeit, Zweistaatenlösung –, scheitern, an Unfähigkeit zum Kompromiss, an Maximalforderungen, Hass, Gewalt.“
Die Götter wohnten nur noch in den Tempeln
Der Archäologe Gabriel Zuchtriegel deutet Pompejis letzte Jahre als spirituelles Beben und zeigt, wie jüngste Ausgrabungen die Ablösung der heidnischen Kulte durch das Christentum erhellen.
Tilman Spreckelsen zufolge geht das Bild, das Zuchtriegel zeichnet, von den sozialen Verhältnissen in einer Stadt aus, die sich deutlich ihren landwirtschaftlich geprägten Wurzeln entfremdet hat und von starken sozialen Unterschieden geprägt ist. Waren die „Kultstätten zuvor in der Natur zu finden, an bestimmten Gewässern, Bergen oder Wäldern, wurden ihnen seit etwa der Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus mehr und mehr Tempel in der Stadt errichtet, während im Gegenzug die Wildnis urbar gemacht wurde.“ Zuchtriegel konstatiert, so unser Rezensent, ein „spirituelles Beben“, das „zuerst die Unterschicht erreichte“.
Gabriel Zuchtriegel: „Pompejis letzter Sommer“. Als die Götter die Welt verließen. Propyläen Verlag, Berlin 2025. 320 S., geb., 33,– €.
Politische Polarisierung ist wie ein Magnetfeld
Der Soziologe Nils Kumkar erklärt die vermeintliche Spaltung der Gesellschaft als kommunikatives Phänomen.
Unsere Rezensentin Hannah Schmidt-Ott hebt hervor: „Anders als Steffen Mau und seine Kollegen betrachtet Kumkar Polarisierung nicht als Ausdruck gegensätzlicher Überzeugungen. Für ihn ist Polarisierung ein kommunikatives Phänomen“. Polarisierung funktioniere ihm zufolge „wie ein Magnetfeld, eine unsichtbare Anziehungskraft“, an der sich die Kommunikation ausrichte. „Mit dieser Perspektive“, so Schmidt-Ott, gehe „auch eine Neubewertung einher: Polarisierung ist nicht zwangsläufig eine Gefahr für die Demokratie, sondern, im Gegenteil, zentral für deren Funktionieren.“
Nils C. Kumkar: „Polarisierung“. Über die Ordnung der Politik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 290 S., br., 18,– €.
Auf Gewalt konnte das Kapital nie verzichten
Der Historiker Sven Beckert erzählt die tausendjährige Geschichte des globalen Kapitalismus als Geschichte von Zwang, Monopolbildung und der Verschränkung von Staatsmacht und Handelsinteressen.
Lutz Raphael betont: „Raub, Sklaverei beziehungsweise Arbeitszwang und Monopole, so Beckert, sind bis heute genutzte Methoden, um Kapital zu erwerben und zu vermehren. Entsprechend große Bedeutung kommt im Buch dem ‚Kriegskapitalismus‘ zu, der zwischen 1450 und 1850 die dominierende Weise darstellte, in der die kapitalistische Weltrevolution vonstattenging.“ Unser Rezensent konstatiert weitgehend zustimmend: „Beckerts Buch erzählt eine weltumspannende Entwicklungsgeschichte, die lediglich eine Gesetzmäßigkeit kennt, nämlich die des unaufhaltsamen Zwangs zur Kapitalvermehrung.“
Sven Beckert: „Kapitalismus“. Geschichte einer Weltrevolution. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Werner Roller, Sigrid Schmid und Thomas Stauder. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 1280 S., Abb., geb., 42,– €.
Wie man überleben konnte
Nach ihrem Welterfolg „Frei“ hat die albanische Politikwissenschaftlerin Lea Ypi mit „Aufrecht“ ein fiktionalisiertes Memoir über das bewegte Leben ihrer Großmutter zwischen Osmanischem Reich, Faschismus und Kommunismus vorgelegt. Ypi ist es erneut gelungen, souverän die großen historischen Linien mit dem Intimen persönlicher Schicksale zu verweben und daraus eine unterhaltsame Geschichte zu entfalten.
In der Rezension von Marianna Lieder heißt es: „Dass es sich hier um ein ungewöhnlich bewegtes Leben handelte, um ein überaus erzählenswertes, exemplarisches ‚Überleben im Zeitalter der Extreme‘, wie es im Untertitel heißt, steht außer Frage: Leman Ypi, geborene Leskowiku, kam 1918 als Tochter eines albanischen Provinzgouverneurs im Osmanischen Reich zur Welt. Sie wuchs in Thessaloniki auf, das damals noch Saloniki hieß, sie besuchte ein französisches Gymnasium und verbrachte ihre ersten Lebensjahre auch ansonsten wie ein Mädchen aus allerhöchsten Kreisen sein Leben in einer längst untergegangenen Welt nun einmal verbracht hat.“ Dass es am realexistierenden Sozialismus nichts zu beschönigen gibt, ist für Ypi schon aufgrund der Familiengeschichte klar. Dennoch, so Marianna Lieder, stehe für Ypi fest, dass echte Freiheit im Kapitalismus nicht möglich sei. Dafür habe sie „Marx mit Kant kombiniert und ihre Vision für die beste aller möglichen Welten auf den Namen ‚moralischer Sozialismus‘ getauft“.
Lea Ypi: „Aufrecht“. Überleben im Zeitalter der Extreme. Aus dem Englischen von Eva Bonné, Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 389 S., Abb., geb., 28,– €.
Dem Schwebenden anhängen
Joseph Vogl begibt sich in seinem Essay „Meteor“ auf die Suche nach dem Schwebenden, Ephemeren, Flüchtigen und Fluiden. In der Literatur, der Philosophie wie auch in den Naturwissenschaften findet er Prozesse, die sich im „Nicht mehr und noch nicht“ eingerichtet haben, und hinterfragt sie hinsichtlich der Möglichkeitsräume, die sie eröffnen.
Rezensent Jospeh Hanimann schreibt: „Das Schwebende oder ‚Meteorische‘, In-die-Luft-Gehobene, ist etwas, das weder lastet noch davonfliegt. Es liegt im unsteten Gleichgewicht zwischen gegensätzlichen Kräften und ist schwer fassbar, wie Wolken und Nebel. Diese unfeste Beschaffenheit im weiten Spektrum von sprachlichen, epistemologischen, wissenschaftsgeschichtlichen oder politischen Implikationen zu bedenken, ist Vogls Anliegen. Mehr assoziativ als systematisch sucht der Autor mit Seitenblicken auf die atomistische Deklinationstheorie des ‚clinamen‘ bei Lukrez, auf die Wolkenlehre Luke Howards und Goethes oder auf diverse literarische Motive ein Weltverhältnis anzuzeigen, das zum besseren Verständnis unserer kognitiv, politisch, existenziell sich verflüchtigenden Gegenwartserfahrung beitragen könnte.“
Joseph Vogl: „Meteor“. Versuch über das Schwebende. C.H. Beck Verlag, München, 2025. 144 S., Abb., geb., 20,– €.
Source: faz.net