Die Uhr tickt im deutschen Gesundheitswesen. Die einen halten sie für einen Wecker, damit die Verantwortlichen endlich aufwachen und tiefgreifende Reformen beschließen. Die anderen sprechen von einer Zeitbombe: Über kurz oder lang fliege das System in die Luft. Dass es so weitergehen kann wie bisher, daran glaubt kaum noch jemand. Deshalb schwirren derzeit viele Ideen umher, wie sich die Finanzen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und in der sozialen Pflegeversicherung stabilisieren lassen.
Die Zeit drängt, in den kommenden zwei Wochen müssen erste Vorschläge auf den Tisch. Nach F.A.Z.-Informationen legt die im Juli von Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zukunftspakt Pflege“ am 13. Oktober erste Zwischenergebnisse vor. Ebenfalls Mitte des Monats tagt der Schätzerkreis zu den GKV-Finanzen. Aufgrund der erwartbaren Einnahmen und Ausgaben schlägt er einen durchschnittlichen Zusatzbeitrag für 2026 vor. Sich daran orientierend, muss Warkens Haus die Höhe bis zum 1. November festlegen.
Es entscheidet sich also innerhalb von wenigen Wochen, ob die Koalition aus CDU, CSU und SPD ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einhält. Dort heißt es zur Pflege- und Krankenversicherung: „Ziel ist es, die Finanzsituation zu stabilisieren und eine weitere Belastung für die Beitragszahlerinnen und -zahler zu vermeiden.“ Immer wieder hat Warken versichert, die Regierung sei sich einig, dass es 2026 und 2027 keine Erhöhung der Beitragssätze geben werde.
Keine vollständige Abschaffung geplant
Zugleich sagte sie aber, dass trotz zweier Bundesdarlehen im kommenden Jahr in der GKV noch vier Milliarden und in den Pflegekassen zwei Milliarden Euro fehlten. Das erfordert rechnerisch eine Anhebung der Beitragssätze um 0,2 Prozentpunkte in der GKV und um 0,1 Punkte in der Pflege. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssten dann im Normalfall 3,7 statt bisher 3,6 Prozent des versicherungspflichtigen Einkommens an die Pflegekassen zahlen. In der Krankenversicherung bliebe der allgemeine Beitragssatz von 14,6 Prozent konstant, der kassenindividuelle Zusatzbeitrag würde aber im Schnitt von heute 2,9 auf 3,1 Prozent zulegen. Statt 17,5 wären insgesamt 17,7 Prozent an die Kassen abzuführen.
Um das zu umgehen, sollen die Lücken anderweitig geschlossen werden. Darüber reden sich derzeit die Kommissionen und andere Akteure die Köpfe heiß. Für die größte Aufregung sorgen unbestätigte Meldungen, wonach der Pflegegrad 1 abgeschafft werden könnte. Er war 2017 eingeführt worden, als aus drei Pflegestufen fünf Pflegegrade wurden. Der erste Grad richtet sich an Personen mit „geringer Beeinträchtigung der Selbständigkeit“, die einen gewissen Hilfebedarf haben. Ende 2024 hatten rund 864.000 Personen Anspruch auf Pflegegrad 1, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Mit 15 Prozent aller Bedürftigen stellten sie die drittgrößte Gruppe hinter den Pflegegraden 2 und 3. Nach Informationen der F.A.Z. wird im „Zukunftspakt Pflege“ über den Leistungsumfang tatsächlich diskutiert, eine vollständige Abschaffung des Pflegegrads 1 ist aber bisher nicht geplant.
Angebote für Pflegegrad 1 werden wenig abgerufen
Das geht aus einem vertraulichen Papier der Kommission von Ende August hervor. Die dort erörterten „Fragestellungen zum Pflegegrad 1“ sollten klären, ob dieser sein Ziel tatsächlich erreicht und in welcher Weise er möglicherweise „leistungsrechtlich modifiziert“, also abgespeckt werden müsse. Die Ergebnisse sind nicht eindeutig, zeigen aber, dass viele Leistungsbezieher vor allem finanzielle Unterstützung zur Haushaltsführung erwarten. Für Heil- und Hilfsmittel sowie für die Rehabilitation haben sie weniger Bedarf. Auch brauchen die wenigsten professionelle Pflege, zumeist kümmern sich Angehörige um sie. Gutachter berichten, dass sich die überwiegende Mehrheit der Betroffenen selbst versorgen, kochen, putzen, aufräumen könne. „36 Prozent [der Gutachter] sagen sogar, dass Personen mit Pflegegrad 1 keine Leistungen der Pflegeversicherung benötigen“, so das Protokoll.
Diese Resultate sind insofern bedeutsam, als der Pflegegrad 1 eigentlich vermeiden soll, dass Bedürftige in höhere, teurere Grade abrutschen. Deshalb wird viel Wert auf Reha, Prävention, Mobilität, Wohnraumverbesserungen, Beratung – auch der Angehörigen – und auf den Schutz vor Stürzen oder Alleinlassen bei Gefahren gelegt. Tatsächlich ist aber die Nachfrage nach solchen Leistungen viel geringer als für die finanziellen Hilfen.
Loch in der Pflegefinanzierung dürfte bleiben
Dem internen Papier zufolge betrugen die Leistungsausgaben für den Pflegegrad 1 im Jahr 2024 knapp 640 Millionen Euro. Das ist viel weniger als die derzeit oft kolportierte Summe von 1,8 Milliarden Euro, macht aber dennoch ein Prozent aller Ausgaben der Pflegekassen aus. Drei Viertel davon, rund 483 Millionen Euro, entfallen auf sogenannte Entlastungsleistungen. Diese sind in dem Papier besonders hervorgehoben – möglicherweise weil sie zur Disposition gestellt, mithin gekürzt werden könnten.
Entlastungsleistungen sind solche Ausgaben, die sich über den „Entlastungsbetrag“ abrechnen lassen, der jedem Bedürftigen mit Pflegegrad 1 zusteht. 2024 waren das 125 Euro im Monat, jetzt sind es 131 Euro. Hinzu kommen 40 beziehungsweise 42 Euro für Pflegehilfsmittel, etwa Desinfektionsmittel oder Bettschutzeinlagen. Der Entlastungsbetrag fließt nicht bar, ist aber breit einsetzbar. Damit dürfen auch Haushalts-, Garten- oder Einkaufshilfen bezahlt werden.
Skeptiker fragen daher, ob diese Millionenzahlungen aus der Pflegekasse zur Vorbeugung eines höheren Pflegegrads wirklich notwendig sind – oder ob sie Mitnahmeeffekte bewirken. Aber selbst wenn alle Entlastungsleistungen gekürzt würden, was unwahrscheinlich ist, ließe sich das Loch in der Pflegefinanzierung gemäß dem Papier nicht schließen.
Mehr Zuschüsse, weniger Ausgaben
Für die Krankenversicherung soll eine weitere Kommission im April erste Vorschläge unterbreiten, allerdings erst für die Beitragsstabilisierung 2027. Für 2026 muss schnell etwas passieren, vermutlich kommt es zu einer Mischung aus höheren Steuerbezuschussungen – oder weiteren Darlehen – und Ausgabenkürzungen. Wie Letztere aussehen, ist noch unklar. Warkens Staatssekretär Tino Sorge (CDU) hatte kürzlich einen „Basistarif“ in der GKV zur Grundversorgung mit verringerten Leistungen vorgeschlagen.
Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, regte an, dass Patienten zwischen 200 und 350 Euro im Jahr selbst zahlen müssten, wenn sie ohne digitale Ersteinschätzung oder Hausarztüberweisung einen Facharzt aufsuchen. Das deckt sich mit Ideen aus dem Koalitionsvertrag, ein „Primärarztsystem“ einzuführen.