F.A.Z. exklusiv: Der Anteil dieser Beschäftigten in Gewerkschaften ist gesunken

Die großen deutschen Gewerkschaften geben einmal jährlich ihre Mitgliederzahlen bekannt. Doch auf Fragen nach ihrem Organisationsgrad unter den Beschäftigten reagieren sie schmallippig: Ihre Streikmacht in Tarifkonflikten soll nicht berechenbar sein. Umso interessanter wird es, solche Fragen mithilfe anderer Datenquellen zu ergründen. Genau dies hat das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) nun getan; und liefert dazu gleich noch einen europa­weiten Überblick mit. Die Untersuchung von Tarifforscher Lennart Eckle liegt der F.A.Z. vorab vor.

In fast allen betrachteten Ländern geht demnach der durchschnittliche Organi­sationsgrad über alle Branchen hinweg klar zurück. In Deutschland sank er von 20,2 Prozent im Jahr 2016 auf 16,6 Prozent der Beschäftigten. Die Bandbreite ist dabei sehr groß. So sind in den skandinavischen Ländern traditionell besonders viele Beschäftigte in einer Gewerkschaft, während das für heftige und oft politisch mo­tivierte Streiks bekannte Frankreich weit unten in der Liste steht. Der IW-Sudie zufolge hatten die Gewerkschaften in Schweden zuletzt einen Organisationsgrad von 72,3, in Frankreich hingegen nur von 9,3 Prozent. Noch niedriger ist er in Polen (7,8 Prozent) und Ungarn (5,6 Prozent).

Auch Rentner sind Gewerkschaftsmitglieder

Ermittelt hat Eckle dies mithilfe des European Social Survey, einer breiten wissenschaftlichen Repräsentativerhebung. Die Befragten geben dabei unter anderem an, ob sie einer Gewerkschaft angehören und ob sie in einem Anstellungs­verhältnis arbeiten. Die jüngsten Zahlen stammen aus der Befragung von 2023. Zum Vergleich dienen Zahlen von 2016, weil das IW damals eine ähnliche Auswertung gemacht hat.

Auf diesem Weg lässt sich auch der „Netto-Organisationsgrad“ ermitteln: der Anteil der Beschäftigten, die in einer Gewerkschaft sind, was tarifpolitisch von erhöhtem Interesse ist. Die Gesamtzahlen der Gewerkschaften umfassen auch andere Personengruppen, allen voran Rentner.

Die hohen Organisationsgrade in Skandinavien lassen sich mit einer sozialstaat­lichen Besonderheit erklären: Dort gab es früher und in einigen Ländern auch heute keine staatlich organisierte Arbeitslosenversicherung; vielmehr boten oder bieten die Gewerkschaften einen Schutz vor Einkommensausfall an. Folglich werde eine Mitgliedschaft dort „häufiger erwogen als in Ländern mit staatlichen Zwangssystemen“, schreibt Eckle. Schweden und Finnland haben bis heute solche Systeme. Anderswo wurden sie zwar aufgegeben, aber die Tradition wirkt immer noch nach.

In anderen Ländern sind die Werte ebenfalls gesunken

Auf ähnlichem Niveau wie hierzulande bewegen sich indes die Organisations­grade etwa im Vereinigten Königreich (20,6 Prozent), Spanien (16,1 Prozent) und den Niederlanden (15,9 Prozent). Und dort sind die Werte auch in ähnlichen Größenordnungen gesunken. Ein Ausreißer ist Österreich, der dortige Wert ist laut IW von 27,8 auf 32,1 Prozent gestiegen.

Die Suche nach Gründen für den ansonsten sinkenden Trend zeigt, dass dahinter neben möglichen Fehlern einzelner Gewerkschaften auch ein größerer Strukturwandel steht: Da Industriearbeiter in Großfabriken traditionell besonders stark organisiert sind, drückt eine steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen auf die insgesamt gemessene Quote. Ähnliches gilt für den Faktor Migration: Zugewanderte Arbeitnehmer sind seltener in Gewerkschaften als einheimische.

Daneben wirkt aber auch die Alterung der Gesellschaft kräftig auf den Organi­sationsgrad ein. Ältere Beschäftigte sind überwiegend stärker in Gewerkschaften vertreten als jüngere, auch weil die Mitgliedschaft vor einigen Jahrzehnten noch selbstverständlicher war als heute. Solange diese Kohorten im Erwerbsleben stehen, stützen sie den durchschnittlichen Netto-Organisationsgrad. Umso mehr gerät er aber unter Druck, wenn die geburtenstarken und zugleich gut organisierten Jahrgänge in Rente gehen.

Diese Entwicklung spricht außerdem dagegen, dass den Gewerkschaften eine schnelle Trendwende gelingen kann, zumal, wenn sie – wie gerade hierzulande – mit einem starken Abbau von Industriearbeitsplätzen einhergeht. Außerdem bestätigt die Studie, dass Beschäftigte in kleineren Be­trieben, in befristeten Jobs und in Teilzeitarbeit besonders selten den Weg in die Gewerkschaften finden. Darüber hinaus, so folgert Eckle, sollten diese in Zukunft „verstärkt wachsende Branchen im Strukturwandel in den Blick nehmen, um ihre Relevanz und Mitgliederbasis langfristig zu sichern“.

AllenArbeitnehmerArbeitslosenversicherungCoDeutschlandEuropaFFinnlandFrankreichFrauenGesellschaftGewerkschaftGewerkschaftenIWJahrgängeJobsMigrationÖsterreichPolenRenteRentnerSchwedenSkandinavienSpanienStarkStreiksTeilzeitarbeitUngarnWeilWirtschaftZ