Die mögliche Abschiebung von Straftätern aus Deutschland – sogar in Länder, wo diese nie gelebt haben – ist zurzeit ein von interessierten Kreisen gepushtes Medienthema. Taner Bektaş möchte selbst abgeschoben werden in sein Geburtsland Türkei. Er hofft, dass er dort endlich im Leben ankommt, was ihm in Deutschland nicht gelang. Die aktuelle Situation dort kennt der Mann nicht, der wegen im Film nicht genannter Straftaten zu neun Jahren verurteilt wurde und zur Zeit des Drehs in einer deutschen Haftanstalt sitzt. Nach Deutschland gekommen war er 1989 als fünfjähriges Kind, nach einer langwierigen Flucht über Land mit den Eltern, die in der Türkei als alevitisch-kurdische Kommunisten verfolgt worden waren und im oberbayerischen Starnberg landeten. Auf der Flucht dabei war auch Taners Schwester Bahar, die mit diesem Film über die eigene Familie ihr Debüt als Dokumentarfilmregisseurin gibt.
Als dramaturgischer Bogen dient Bahar Bektaş dabei die Tatsache, dass die von Taner beantragte Abschiebung zu Beginn des Films unmittelbar bevorzustehen scheint, sich dann aber immer wieder ins Ungewisse verschiebt. Den Eltern, die schon an konkreten Vorkehrungen für Taners Ankunft in der Türkei saßen, macht dies verständlicherweise Stress. Der in Deutschland geborene, unter Depressionen leidende jüngere Bruder Onur flieht in emotionale Abwehr – und will erst gar nichts mehr vom Bruder wissen – und dann selbst in die Türkei. Und Bahar nimmt den durch die unklare Situation provozierten Limbus zum Anlass, grundsätzliche Fragen an die Familie, die Eltern zu stellen.
Die Eltern Bektaş waren nach Deutschland gekommen, um ihren Kindern die eigenen Leiden zu ersparen, erzählt Vater Mustafa, der mit 16 Jahren in der Türkei im Gefängnis gefoltert wurde. Doch dann bekam er Probleme mit der deutschen Polizei, die ihn als Spitzel anwerben wollte und schikanierte, als er nicht darauf einstieg. Sohn Taner, meint er, war vom Wohlstand ihrer Umgebung überfordert. Auch Mutter Yildiz erzählt von der Scham als Flüchtling im reichen Starnberg – und massiven rassistischen Anfeindungen. Sie ist eine geradlinige Frau mit einem Hang zu starken Worten, die in einem mit Hilfe der Tochter geschriebenen Beschwerdebrief an die Leitung der JVA wegen Schikanen von „psychischer Folter“ spricht.
Zwischen Bayern und Izmir
Die Filmemacherin nähert sich dem familiären Geflecht in direkten Gesprächen und im Videochat mit Abwesenden und dem inhaftierten Bruder. Dabei bewegt sich das filmische Geschehen scheinbar grenzenlos zwischen Wohnungen in Bayern und Izmir, auch eine Reise zum Herkunftsort der Familie in Ost-Anatolien gibt es. Die Kamerafrauen Antonia Kilian und Meret Madörin finden einprägsame Bilder für seelische Heimatlosigkeit wie Hirsche in Schneelandschaft oder Ausblicke in Bäume und Berge. Der Schatten eines romantischen Laubengangs in Starnberg erscheint als dunkles Gittermuster auf dem Kies.
Die Idee von Bektaş, den abwertenden Blick von Medien und Politik auf Flüchtlinge und MigrantInnen durch Verschiebung der Perspektive radikal umzulenken, ist im Dokumentarfilm nicht neu, aber einleuchtend. Dabei mischt die Erzählhaltung des Films allerdings interne Behutsamkeit mit Informationsverweigerung nach außen (etwa wenn unklar bleibt, wie als kurdische Kommunisten aus der Türkei geflohene Menschen dort unter Erdoğans Regime ungefährdet einreisen können).
Problematischer aber ist die Dreifachrolle als Regisseurin, Familienmitglied und ausgebildete Sozialpädagogin, die gefühlige Fragen stellt und ordnend ins familiäre Geschehen eingreift. Als Filmemacherin hakt Bektaş’ an entscheidenden Stellen nicht nach – etwa wenn die Mutter kursorisch von einer längeren Festnahme wegen eines Protests bei der Ausländerbehörde erzählt und wir nicht einmal erfahren, wie dieser Protest denn konkret aussah. Auch die erwähnten Schikanen der deutschen Polizei gegen Mustafa bleiben vage. Als Schwester wiederum wischt sie schwierige Situationen gerne mit einem „Wird alles gut!“ weg. Wenn dann am Ende die Familie in einem schönen Tableau an einem Tisch vor dem weiten Meer eine gemeinsame Zukunft in Izmir imaginiert (Taner ist auf dem Laptop dabei), fühlt sich das doch stark wie die ästhetische Überhöhung von Illusion an.
Exile Never Ends Bahar Bektaş Deutschland 2024, 100 Minuten