Im Jahr 2019 bezeichnete Ursula von der Leyen den Green Deal als „Europas Mondlandung“. Zu der Zeit erlebte die Klimabewegung ihren Höhepunkt, Greta Thunberg war gerade auf einem Segelboot nach New York gefahren, um vor den Vereinten Nationen zu sprechen.
Und weltweit demonstrierten Hunderttausende Menschen für mehr Umweltschutz. Doch heute hat sich die Stimmung gewandelt. Bald könnte der Green Deal – ebenfalls etwas überspitzt formuliert – zur Bruchlandung werden.
Von der Leyen will Europa bis 2050 in den ersten klimaneutralen Kontinent der Welt verwandeln. Unter ihr verabschiedete Brüssel Dutzende Öko-Regeln. Doch jetzt, nach der Wahl, dürfte sich der Fokus verschieben: weg vom Kampf gegen die Erderwärmung, hin zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit.
Das politische Vermächtnis der deutschen Kommissionschefin wackelt. Einige ihrer wichtigsten Projekte stehen vor dem Aus. Welche sind das? Und wie könnte die Wirtschaftspolitik der EU künftig aussehen? WELT gibt einen Überblick.
Warum ist der Green Deal in Gefahr?
Die Europäische Volkspartei (EVP) um CDU und CSU wurde erneut stärkste Fraktion im EU-Parlament und gewann sogar noch Sitze hinzu. Ihr Chef Manfred Weber ist der neue starke Mann in Brüssel, gegen ihn wird nicht mehr viel gehen.
Und er fordert eine wirtschaftsfreundlichere Regulierung: weniger Vorschriften für Unternehmen, weniger Umweltschutz in der Landwirtschaft, weniger Bürokratie.
Die Parteien rechts der EVP, mit denen von der Leyen möglicherweise zusammenarbeiten wird, möchten den Green Deal am liebsten ganz abschaffen. Und die Grünen haben nicht mehr viel zu sagen.
In den vergangenen Jahren konnten sie gemeinsam mit den Sozialdemokraten noch gegen den Willen der EVP Vorhaben wie das Lieferkettengesetz und das Verbrenner-Aus durchsetzen. Das ist nun wohl vorbei.
Von der Leyen selbst dürfte den Green Deal ebenfalls mit weniger Elan vorantreiben als bisher. 2019 wollte sie sich mit ihrer ambitionierten Klimapolitik auch die Unterstützung der Grünen sichern – die braucht sie jetzt nicht mehr unbedingt.
Zudem schlug die Stimmung in der Bevölkerung um. „Vielen Europäern macht der Klimawandel zwar Sorgen“, sagt der Ökonom Aurélien Saussay von der London School of Economics. „Aber politische Maßnahmen, die Haushalte direkt betreffen, wie das deutsche Heizungsgesetz, können starken Widerstand auslösen.“
Welche Projekte stehen konkret auf der Kippe?
Mehreren großen Vorhaben von der Leyens droht das Aus. Die EU-Kommission dürfte zum Beispiel von einem geplanten Verbot sogenannter PFAS abrücken.
Das ist eine Gruppe aus mehr als 10.000 Stoffen. Sie weisen Öl und Schmutz ab, trotzen Druck und Hitze. Man findet sie etwa in Bratpfannen, Regenjacken, Dichtungen, Windrädern und Elektroautos. Ohne sie würde unsere moderne Welt nicht funktionieren.
Das Problem ist: Gelangen sie einmal in die Natur, bleiben sie dort für lange Zeit. Deshalb werden sie auch ewige Chemikalien genannt. Auch der Industrie dürften die meisten dieser Substanzen nun erhalten bleiben.
Das sogenannte Gesetz zur Wiederherstellung der Natur könnte ebenfalls am Ende sein. Es sieht vor, dass 20 Prozent aller geschädigten Landflächen und Meeresgebiete Europas in ihren ursprünglichen Zustand versetzt werden. Das Parlament hatte dem Vorhaben im vergangenen Jahr zwar zugestimmt, gegen den Widerstand der EVP. Doch einige EU-Staaten blockieren es derzeit.
Und auch die Idee, die Nutzung von Pestiziden auf Europas Feldern einzuschränken, ist wohl vom Tisch. Die Kommission, aufgeschreckt von den Protesten der Bauern, zog einen entsprechenden Vorschlag schon vor der Wahl zurück. Es ist unwahrscheinlich, dass die Behörde, nach dem Erstarken der Konservativen im Parlament, einen neuen Anlauf unternimmt.
Und was ist mit dem Verbrenner-Aus?
Eigentlich schien alles klar: Ab 2035, so beschloss es Brüssel im vergangenen Jahr, sollen in der EU keine Neuwagen mit Verbrennungsmotor mehr verkauft werden dürfen. Es sei denn, sie fahren mit E-Fuels, also mit synthetischem Sprit auf der Basis von Wasserstoff.
Der deutsche Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) hatte sich für diese Ausnahme eingesetzt. Aber noch ist unklar, wie die Kraftstoffe auf die Flottengrenzwerte der EU angerechnet werden sollen. Also auf die Emissionsziele, die Autokonzerne erfüllen müssen. Das klingt nach einem Detail. Doch es stellt die Zukunft des E-Fuel-Verbrenners infrage.
Die EVP will deshalb das gesamte Gesetz neu verhandeln. Und die Rechtspopulisten sowieso. Daher könnte die Debatte nach der Wahl sogar über E-Fuels hinausgehen. Erste Abgeordnete fordern zum Beispiel, auch Verbrenner zu erlauben, die Öko-Diesel tanken.
Etwa HVO 100, das ist ein synthetischer Kraftstoff auf Basis von Pflanzenöl oder tierischen Fetten. Der Ausgang der Europawahl macht das Comeback des Verbrenners also wahrscheinlicher.
Was bedeutet die Wahl für den Finanzplatz Europa?
Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne dürften sich zumindest auf eines verständigen können: dass Europa mehr Geld benötigt. Etwa für die Entwicklung künstlicher Intelligenz, die Stärkung der Verteidigung und auch den Kampf gegen den Klimawandel. Es geht darum, im Wettlauf um die Arbeitsplätze und Technologie der Zukunft nicht von Amerika und China abgehängt zu werden.
Doch wie sollen all die benötigten Milliarden mobilisiert werden? Mehrere Politiker beabsichtigen ein zehn Jahre altes Projekt wiederzubeleben: die Kapitalmarktunion. Der freie Verkehr von Kapital ist eine der vier Säulen des Binnenmarktes, neben dem Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen.
Und doch bestehen – nach Jahrzehnten der Integration – noch immer Hindernisse. Es gibt nicht einen europäischen Kapitalmarkt, sondern 27 davon, jeder mit anderen Steuerregeln und Aufsichtsbehörden.
Zu den Verfechtern eines einheitlichen europäischen Finanzmarktes zählen etwa Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und EU-Ratschef Charles Michel – also einige der wichtigsten Politiker Europas.
Trotzdem könnte das Projekt nun erneut stecken bleiben. Denn die vielen Euroskeptiker, die nun ins Parlament einziehen, halten nicht viel von mehr Integration. Der Kontinent soll ihrer Meinung nach nicht zusammenwachsen, weder politisch noch ökonomisch.
„Europa braucht die Vollendung der Kapitalmarkt- und Bankenunion“, sagt Moritz Schularick, Präsident des IfW Kiel. „Das starke Abschneiden populistischer und europaskeptischer Parteien macht dies nicht einfacher, aber auch nicht unmöglich.“ Die proeuropäischen Kräfte müssten jetzt umso mehr zusammenstehen.
Source: welt.de