Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine herrscht in Europa eine sicherheitspolitische Alarmstimmung, seit dem Beginn der zweiten Präsidentschaft des amerikanischen Präsidenten Donald Trump sind Ohnmachts-Anwandlungen hinzugekommen. Ein Strategiepapier des britischen Militärforschungsinstituts RUSI (Royal United Services Institute) sieht die Euro-Atlantische Sicherheitsarchitektur in „der akutesten Krise“ seit ihrem Entstehen am Ende des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren und zählt als Gründe dafür außer der ruchlosen russischen Aggression und der amerikanischen moralischen Indolenz auch den Machtzuwachs Chinas auf und die wachsende – durch den Erfolg populistischer Parteien verursachte – Instabilität Europas.
Gleichwohl sieht die britische Studie für die Europäer Möglichkeiten, die neue, drastisch veränderte Sicherheitslage zu handhaben. Ihre Kernempfehlung lautet, die Europäer müssten rasche Schritte zur Stärkung der NATO unternehmen, „auch wenn die USA anderswo engagiert sind“; sie müssten vor allem rasch die konventionelle, aber auch die nukleare Abschreckung festigen und ferner „minilaterale Sicherheitsabsprachen“ schaffen, welche die NATO ergänzten. Hier urteilen die beiden Autoren der RUSI-Studie, Ed Arnold und Darya Dolzikova, ein Zusammenwirken der bestehenden Kooperationsformate „E3“, also Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands, und „Weimarer Dreieck“ in Gestalt von Deutschland, Frankreich und Polen könnte „die stärkste Vierergruppe europäischer Mächte entwickeln, die eine starke Führungskraft entwickeln und eine Brücke zwischen Nato und EU bilden“ könne.
Das Strategiepapier, das mit Mitteln des britischen Auswärtigen Amts gefördert wurde, identifiziert in der europäischen Sicherheitskrise auch Gründe für Optimismus. Zu ihnen zählen die Autoren die mittlerweile rasch wachsenden Verteidigungsbudgets in den europäischen Ländern und die angestoßene Debatte über europäische Komponenten nuklearer Abschreckung, auch wenn die entsprechenden britischen und französischen Fähigkeiten eingeschränkt bleiben – die britischen wegen ihrer technologischen Abhängigkeit von amerikanischen Produzenten, die französischen wegen ihres nationalen Vorbehalts, der sie der Verfügung der NATO entzieht.
Schwächung Russlands in Zentralasien
Zu den positiven Effekten zählt die Studie auch eine Schwächung Russlands, die durch sein Unvermögen entstanden sei, den Angriff gegen die Ukraine rasch zum Erfolg zu führen. Als Beispiel führt sie einen Autoritätsverfall Russlands in seinem zentralasiatischen Hinterhof an: Schon vor drei Jahren habe Russland nicht verhindern können, dass Kirgistan kurzfristig Manöver der Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit abgesagt und damit Putins Anti-NATO-Pakt faktisch gegenstandslos gemacht habe. Allerdings veranstaltete Kirgistan vor einem Monat ein Gipfeltreffen der Organisation und empfing Putin in Bischkek – jedoch blieb dieses Mal Armenien der Veranstaltung fern.
Als weitere Beispiele geschwächten außenpolitischen Einflusses Russlands nennt das RUSI-Papier den Sturz des syrischen Machthabers Assad und die Resilienz der Republik Moldau, die trotz massiven Drucks und vielfältiger Einflussversuche Moskaus an ihrem Kurs in Richtung EU festhalte.
Zu den Elementen einer neuen Euro-Atlantischen Sicherheitsarchitektur zählen die Autoren der RUSI-Studie als erstes die Einigung auf eine langfristige Strategie: Welche Sicherheit wollen die Europäer am Ende erreichen? Den augenfälligen Bezugspunkt biete Russland. Dazu wiederum müsse Einigkeit hergestellt werden, welches Ende der Krieg in der Ukraine aus europäischer Sicht haben solle, wie ein Sieg der Ukraine und – wichtiger noch – wie eine russische Niederlage aussehen solle. Die Autoren stellen infrage, ob es künftig aus Sicht der europäischen Mächte ausreichen werde, Russland von weiteren Angriffen abschrecken zu können, oder ob es militärisch nicht so stark geschwächt werden müsse, dass von ihm keine strategische Gefahr mehr ausgehe.
Warum London eine Führungsrolle bekommen soll
Als taktische Schritte für die Europäer empfiehlt die Studie, sie sollten zunächst die NATO möglichst rasch so verändern, dass sie auch mit vermindertem amerikanischen Engagement handlungsfähig bleibe. Dazu müssten die Europäer möglichst rasch ihre eigenen militärischen Fähigkeitslücken bestimmen und füllen. Großbritannien, Frankreich und Deutschland würden künftig den europäischen Entscheidungsprozess bestimmen; sie könnten gemeinsam mit Polen (Weimarer Dreieck) eine starke Führungsgruppe bilden. Auch innerhalb dieses Quartetts seien gemeinsame Initiativen und Vorstöße möglich, als aktuelles Beispiel wird der französisch-britische Vorstoß für eine „Koalition der Willigen“ und eine Friedenstruppe in der Ukraine hervorgehoben.
Am Ende schreiben die RUSI-Autoren dem Vereinigten Königreich eine entscheidende Rolle zu: Großbritannien sei eine von zwei europäischen Nuklearmächten, habe ein sehr enges bilaterales Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und bringe sich in der Verteidigungspolitik vollständig in die NATO ein. Es besetze zentrale Positionen in der NATO-Kommandostruktur und könne dadurch europaspezifische Ergänzungen beeinflussen, welche die Allianz auch dann handlungsfähig hielten, falls die Vereinigten Staaten ihr Augenmerk gerade auf andere Vorgänge richteten.
Am wirksamsten könne das Vereinigte Königreich seinen Einfluss in der NATO zur Geltung bringen, indem es seine bisher schon beanspruchte sicherheitspolitische Führungsrolle für den Norden Europas weiter ausbaue, die bisher vor allem aus einer gemeinsamen Eingreiftruppe mit den skandinavischen Ländern und aus enger Marine-Kooperation mit Norwegen besteht.
Source: faz.net